Von Asozialen und Blindarmen

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Dokumente einer Minderheiten-Beschimpfung in der Corona-Zeit. Eine Buchvorstellung.

Nach dem offiziellen Ende der Corona-Pandemie mehren sich die Stimmen, die nach Aufarbeitung rufen. Dazu gehört sicher auch die Frage, wie mit Menschen umgegangen wurde, die den verhängten Maßnahmen und insbesondere dem Druck zur Impfung kritisch gegenüberstanden. Zu welchen Deformationen Gesellschaften in Krisensituationen fähig sind, wie schnell Grundrechte und auch geltende soziale Umgangsformen einer Notlage geopfert werden, zeigt sich im geschichtlichen Rückblick oft deutlicher. Deshalb ist es gut, dass die Autoren Marcus Klöckner und Jens Wernicke in ihrem Buch wichtige Beispiele für fatale Diskriminierungen dokumentieren, die während der Pandemie immer leichter von der Hand gingen.

Stellvertretend für viele andere sei hier eine Äußerung von Wolfgang Niedecken zitiert. Der sympathische Kölner Rockmusiker steht mit seiner Band BAP sonst für gesellschaftliches Engagement und für Zusammenhalt. Beim Thema Corona kanzelte er jedoch Andersdenkende mit den Worten ab: „Es ist asozial, sich nicht impfen zu lassen.“ Die Bezeichnung von Menschen als „asozial“ kennzeichnet sonst eher das rechtsextreme Spektrum. Im Falle der Maßnahmen-Skeptiker waren es dagegen auffällig viele Repräsentanten des öffentlichen Lebens, die sonst vor Ausgrenzung und Diskriminierung warnen, hier aber jede Hemmung fallen ließen. Einen der vielen traurigen Höhepunkte bildet die Äußerung der ZDF-Komikerin Sarah Bosetti, die Maßnahmenskeptiker:innen insgesamt mit einem „Blindarm“ verglich, der „nicht im strengen Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes“ sei und deshalb entsprechend abgespalten werden solle.

Auch im Umgang mit Grundrechten wurden Grenzen überschritten. Gerade Politiker:innen der Grünen (wie der Baden-Württembergische Präsident Kretschmann) ließen ihren Zwangsphantasien gegen Impf-Unwillige freien Lauf. Bußgelder von 5.000 Euro würden die Impfquote deutlich erhöhen, so Tübingens OB Boris Palmer. Weltärztebund-Vorstand Ulrich Montgomery schlug als pädagogische Maßnahme vor, Ungeimpften die Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr und damit den Weg zum Arbeitsplatz zu verbieten. Die medienbekannte Medizinerin und Influencerin Doc Caro meinte offenherzig: „Zwang ist nicht immer etwas Schlechtes. Er kann auch eine Chance sein.“ Es dürfte in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig sein, dass während der Pandemie ein Anteil von geschätzt einem Viertel der Bevölkerung offen diskriminiert wurde, zumal, wie inzwischen bekannt, ein Fremdschutz durch die Impfungen zu keinem Zeitpunkt möglich war – anders als im Namen der Wissenschaft lange behauptet.

Neben Prominenten und Politiker:innen sind auch Verantwortliche in den Leitmedien mit verletzenden Äußerungen ganz vorne mit dabei. Während immer heftigere Maßnahmen verhängt wurden, legten sie ihre Professionalität beiseite und wandelten sich zu Kampagnenführern der vermeintlich guten Sache. „Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. Einer, der die Gesellschaft spaltet. Richtig und tief eingeschlagen, trennt er den gefährlichen vom gefährdetem Teil der Gesellschaft“, so etwa der Zeit-Online-Redakteur Christian Vooren.

Das Buch von Klöckner und Wernicke liest sich wie ein, um das zynische Wort zu gebrauchen, „Best-Of“ einer Bewusstseinsverfassung, die im Rückblick geradezu psychotische Züge trägt. Sie hat sich ohne Rücksicht auf die Betroffenen im Namen der Volksgesundheit und im Gefühl moralischer Überlegenheit gegenseitig hochgepusht. Auch wenn die Autoren der Zusammenstellung in ihrer Kommentierung selbst mitunter über’s Ziel hinausschießen und übertriebene Faschismus-Vergleiche bemühen, ist ihnen zu danken, dass sie diese Zeugnisse eines kommunikativen Ausnahmezustandes dokumentiert haben –  für eine immer noch anstehende Aufarbeitung.

Marcus Klöckner, Jens Wernicke: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Das Corona-Unrecht und seine Täter, Rubikon Verlag, 194 Seiten Klappenbroschur, € 20.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.