Angriffe auf die Anthroposophie: „Versuchen, die Dinge plausibel zu machen“

Foto: Jens Heisterkamp/Info3 Verlag

Im Gespräch mit dem Publizisten Wolfgang Müller über Angriffe auf die Anthroposophie, Fallstricke der Auseinandersetzung und eine hilfreiche Haltung.

Die Angriffe gegen die Anthroposophie haben in der Corona-Zeit deutlich zugenommen. Kürzlich unterstellte sogar Tobias Rapp in einem Text für Spiegel Online, dass die Anthroposophen schuld an der niedrigen Impfquote in Deutschland seien. Hat es Sinn, sich mit solchen Vorwürfen auseinanderzusetzen?

Damit auseinandersetzen muss man sich schon. Wahr ist nach meinem Eindruck immerhin, dass die Impfskepsis in der anthroposophischen Szene tatsächlich deutlich höher ist als sonst in der Bevölkerung.

Nur ist der Vorwurf trotzdem Unsinn. Erstens, weil viele trotz Skepsis geimpft sind; ich sehe geradezu einen neuen Typus: geimpfte Impfskeptiker:innen. Und zweitens passt die Sache doch von den Zahlen her gar nicht. Es gibt Millionen Ungeimpfte, aber nur wenige zehntausend Anthroposophen. Da steckt doch in der Schuldzuweisung ein kleiner logischer Fehler. Und da haben halt die „Faktenchecker“ der berühmten Spiegel Dokumentation einmal mehr krass versagt.

Aber was nützt die Korrektur, wenn das Gegenüber offensichtlich so wenig an Tatsachen interessiert ist und ein vernichtendes Urteil bereits feststeht? 

Soll man die Dinge denn so stehen lassen? Nein, man muss schon gegenhalten. Auf den ersten Blick werden eben doch viele seiner geografischen Zuordnung folgen „Hochburgen der Anthroposophie = viele Impfgegner“ und werden dann die Schuldzuweisung mitmachen. Dieses schiefe Argument muss man entlarven. Gerade dadurch wird ja erst klar bzw. kann man freilegen, dass hier wohl andere Motive am Werk sind.

Argumente entgegenzuhalten ist sicher gut, aber dann ist es ja meist schon zu spät und die Botschaft ist in der Welt. Deshalb noch einmal einen Schritt zurück: Bei der Berichterstattung zur Anthroposophie fällt auf, dass hier so gut wie nie die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Man könnte ja zum Beispiel auch mal bei der anthroposophischen Ärzteschaft nachfragen, wie sie es mit dem Impfen hält und würde da sogar auf Impf-Empfehlungen treffen.

Vollkommen richtig, so würde man es machen, wenn man die Dinge wirklich verstehen und gerecht darstellen wollte. Ein Teil des heutigen Journalismus – aber so neu ist es gar nicht, damit hatte schon Steiner zu tun – ist leider anders gestrickt. Man tritt mit einem Riesenanspruch auf und geht dann den absolut leichtesten Weg: Man sucht sich ein paar spektakelhafte Aspekte, mit denen sich eine Sache entweder hochjubeln oder runtermachen lässt. Bei der Anthroposophie eher runter. Auch in dem besagten Artikel. Es ist ja fast schon zum Lachen, die „vergrabenen Kuhhörner“ zum Beispiel sind eigentlich immer dabei, auch hier. Kein Wunder, das ist eben ein Journalismus, der hauptsächlich aus Abschreiben besteht. Aus fünf früheren Artikeln mixt man den sechsten. Natürlich kommt das immer mit einem „kritischen“ Gestus daher, aber im Ergebnis wirkt es eher wie geistiges Mitläufertum. Viele kommen offenbar gar nicht auf die Idee, sich wirklich mit der Sache selbst zu befassen, sich vielleicht durch sie korrigieren zu lassen. Und es ist schon wahr, die Anthroposophie ist keine einfache Sache.

Man könnte ironisch sagen: Die Waldorfschule, die dieser Autor besucht hat, ist wirklich ihrem Auftrag gerecht geworden, nämlich keine Anthroposophie zu unterrichten. Jedenfalls hat er keine Ahnung davon. Das ist ja auch völlig ok. Nur sollte man dann keine Artikel darüber schreiben.

Man könnte es auch sehr schlicht sagen: Es fehlt die Wahrheitsliebe.

Und die Anthroposophen selbst? Sind da auch Dinge versäumt worden?

Naja, es fällt schon auf, dass unter den Anthro-Kritikern etliche ehemalige Waldorfschüler sind. In Frankreich und Schweden auch. Sicher, wir Staatsschüler hätten auch manch unschöne Anekdote zu bieten. Trotzdem muss man den Befund ernst nehmen. Und vielleicht gilt er ja nicht nur für die besonders sichtbare Waldorf-Welt, sondern für die anthroposophische Szene insgesamt. Ich kann es nicht voll beurteilen, bin nicht lang genug in Kontakt mit dem Milieu. Aber vielleicht hat sich in diesem gesellschaftlichen Winkel doch über die Jahre manches etwas schräg entwickelt. Der an sich großartige Zug der Anthroposophie, den einzelnen Menschen maximale Freiräume zu lassen, ihre Besonderheiten nicht möglichst abzuschleifen und alles zu regulieren, wie es die Tendenz der Epoche ist, sondern gerade das Individuelle für bedeutsam zu halten – das kann natürlich im Einzelfall auch seltsame Blüten treiben. Jetzt richten sich auf einmal die Scheinwerfer darauf, das ist nicht durchweg angenehm.

Ein anderer Punkt ist die manchmal behauptete Rechtslastigkeit der Anthroposophen. Ist das wirklich ein Faktor?

Insgesamt, würde ich sagen, dominiert da nach wie vor eindeutig eine Art linksalternative Grundorientierung. Aber, stimmt schon, es gibt einige, die politisch nach rechts blinken. Dort wäre man selbstverständlich sehr willkommen, das rechtsextreme Compact-Magazin hat gerade erst seine Liebe zur Anthroposophie entdeckt. Das muss man wohl ertragen, aber man darf nicht darauf reinfallen. Wenn man schon, zu Unrecht, in die rechte Ecke gestellt wird, dann auch noch freiwillig dorthin zu gehen – so dumm darf man nicht sein.

Klar, die Sache ist komplex. Wenn Menschen das Gefühl haben und ja auch tatsächlich die Erfahrung machen, mit berechtigten Gesichtspunkten nie gehört zu werden, ja diffamiert zu werden, dann ist die Versuchung groß, sich in so eine wirre Protestkultur einzuklinken. Diese Abläufe muss man durchschauen. Die Anthroposophie ist getragen von einem freiheitlichen, tief humanen Geist. Sie kann sich unmöglich mit Leuten verbinden, die mit Ausgrenzung und Hass arbeiten.

Was wäre denn zu tun? Was fehlt der heutigen Anthroposophie?

Vielleicht etwas sehr Einfaches: dass sie sich selbst erklären kann. Aber dieses Einfache ist zugleich etwas wahnsinnig Schwieriges. Weil die Anthroposophie eben, wenn man sie ernst nimmt, nicht bloß eine spirituelle Verzierung am heutigen Weltbild ist, sondern gegenüber diesem Weltbild eine in mancher Hinsicht radikal andere Perspektive hat. Damit erregt sie natürlich Anstoß und ist eine Beunruhigung. Daher kommen ja auch die ständigen Vorwürfe, sie sei obskur und unwissenschaftlich. Dabei – Steiner hatte ja die Wissenschaft seiner Zeit voll drauf – will sie eigentlich mehr Wissenschaft, tiefere Wissenschaft, die aber zugleich – das ist wahr – eine andere Wissenschaft sein wird.

Das sind Gedanken, bei denen die meisten Leute heute ganz kariert gucken werden. Das muss man aushalten. Und trotzdem versuchen, die Dinge nach und nach plausibel zu machen. So wie sie einem selbst, jedenfalls mir, erst nach und nach plausibel wurden.

Vielleicht gibt es da sogar eine schöne Dialektik: Gerade der Versuch, nach außen zu gehen und diese schwierige Vermittlung zu versuchen, kann auch zu einer weiteren Selbstklärung führen, zu einer „Erkraftung“, das ist ja ein Lieblingswort von Steiner. Eine Anthroposophie, die nur bei sich selbst bleibt, wird ihrer menschheitlichen Aufgabe nicht gerecht. ///

Die Fragen stellte Jens Heisterkamp.

Wolfgang Müller war viele Jahre Fachredakteur für Zeitgeschichte beim Norddeutschen Rundfunk. Er hat unter anderem für die Zeit und die Taz zum Thema Anthroposophie geschrieben und lebt als freier Autor in Hamburg.

Soeben ist sein aktuelles Buch erschienen: Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart, Info3 Verlag Frankfurt am Main, 192 Seiten, Klappenbroschur, € 14,90. Hier direkt im Info3 Buch-Shop bestellen.

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