Waldbaden mit Geist und Seele

Foto: Lukasz Szmigiel/unsplash

Warum zieht es die Menschen seit Jahrtausenden in die Wälder? Weil biochemische Duftstoffe, die von den Bäumen ausgestoßen werden, das körperliche Wohlbefinden steigern, wie man uns weismachen will? Unser Autor glaubt nicht daran, dass sich die beseelende Wirkung des Waldes rein materiell begründen lässt – und legt den Grundstein für eine ganzheitliche „Forest Philosophy“.

Von Thomas Höffgen

Neueste naturwissenschaftliche Studien im Bereich der Forest Medicine („Waldmedizin“) belegen, dass ein Aufenthalt im Wald äußerst positive Effekte auf den menschlichen Körper hat. Pflanzliche Botenstoffe, die von den Bäumen abgesondert werden, vor allem die sogenannten Terpene, wirken nachweislich gesundheitsfördernd auf den menschlichen Organismus, indem sie etwa den Blutdruck regulieren, den Cortisolspiegel senken oder das Immunsystem stärken. Diese Erkenntnisse haben natürlich auch dazu geführt, dass es gegenwärtig wieder mehr Menschen in die heimischen Wälder zieht, um bewusst die Baumluft einzuatmen und sich die heilsame Wirkung des Waldes zunutze zu machen – man spricht neuerdings von „Waldbaden“ oder auch von „Shinrin Yoku“. Der Trend kommt ursprünglich aus Japan, wo die gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes zum ersten Mal gemessen wurde und das Waldbaden sogar ärztlich verschrieben wird. Laut dem renommierten japanischen Baumprofessor Qing Li ist der Aufenthalt im Wald eine „natürliche Aromatherapie“ und „Entspannung und Erholung, während wir gasförmige, organische Substanzen einatmen“ (Qing Li, Forest Medicine).

Von den Terpenen zur Transzendenz

Aber ist das wirklich „wahre Waldmedizin“? Eine ganz andere Vorstellung von „Forest Medicine“ vermitteln uns etwa die indigenen Ethnien Nordamerikas, für die Wälder und Bäume keine wissenschaftlichen Studienobjekte darstellen, sondern heilige Wesen und weise Lehrmeister: Die Native Americans verstehen unter medicine nämlich explizit – viel philosophischer – „die transzendente Kraft in allen Dingen“. Bei ihren naturreligiösen Medizinwanderungen erleben sie nicht weniger als das Mysterium des Seins: Ihre Waldbäder gehen einher mit dem Gefühl spiritueller Alleinheit und göttlicher Erleuchtung. Tatanga Mani etwa, der Häuptling der Stoney-Nakoda, ist sogar davon überzeugt, dass „Bäume reden. Ja, sie reden. Sie sprechen miteinander, und sie sprechen zu dir, wenn du zuhörst. Ich selbst habe viel von den Bäumen erfahren, manchmal über das Wetter, manchmal über die Tiere, manchmal über den großen Geist“ (Chief Walking Buffalo). Mit Terpenen hat das nichts zu tun, sondern mit Transzendenz.

Aber auch auf anderen Kontinenten, nicht zuletzt in Europa, wurde der Wald vor allem als ein Ort geistig-seelischer Erkenntnisse und göttlicher Eingebungen wahrgenommen – man denke an die heiligen Haine der Germanen, die grüne Kraft der Hildegard von Bingen oder die Waldverehrung der Romantiker. Noch Hermann Hesse war davon überzeugt, dass Bäume und Menschen miteinander kommunizieren können: „Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit“ (Bäume). So drängt sich der Verdacht auf, dass die Wälder nicht nur materiell auf uns einwirken, sondern auch immateriell, nicht nur physisch, sondern auch metaphysisch. Oder mit den Worten des US-amerikanischen Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson: „In den Wäldern kehren wir zur Vernunft und zum Glauben zurück.“

Philosophisches Waldbaden

Als moderne Naturwissenschaft ist die Forest Medicine dem Mechanizismus verpflichtet, wonach die Natur ausschließlich materiell und quantitativ zu begreifen sei: Als bewiesen gilt, was messbar ist, weshalb zum Beispiel Geist und Seele allenfalls als Chiffre für Gehirnströme zu werten seien. Aus geisteswissenschaftlicher Perspektive ist eine solche Welterklärung natürlich geradezu schmerzhaft oberflächlich: Schon die altgriechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles – jene wirkungsmächtigsten Gelehrten der europäischen Geistesgeschichte – gingen davon aus, dass die Welt nicht nur ein Haufen messbare Materie ist, sondern eine allbeseelte Entität: „In jedem Geschöpf der Natur lebt das Wunderbare“, sagte Aristoteles. Die Vorstellung von einer anima mundi („Weltseele“) ist eine der zentralen Theorien der abendländischen Ideengeschichte, keine Esoterik, sondern klassische Philosophie, und wird in geisteswissenschaftlichen Kreisen gerade gegenwärtig wieder als modernes metaphysisches Modell neu diskutiert (Stichwort „Panpsychismus“).

Nirgends konnten die antiken Weisen dieser Weltseele nun näherkommen als im Wald: Kaum zu glauben, aber wahr, die antiken Philosophen gingen schon vor zweieinhalbtausend Jahren leidenschaftlich gerne waldbaden – Platons Akademie war bekanntlich selbst ein Wäldchen vor den Toren von Athen. Sie taten dies jedoch nicht, um das körperliche Wohlbefinden zu steigern, sondern aus Gründen spirituellen Wachstums und um den geistigen Naturgesetzen und göttlichen Geheimnissen der Welt gewahr zu werden. Schon die vorsokratischen Pythagoreer meditierten im Schatten heiliger Bäume. Aber auch von Sokrates ist eine solche Episode überliefert, in der er an den bewaldeten Ufern des Flusses Ilissos waldbadet.

Stellt sich bloß die Frage, ob Sokrates dasselbe eudaimonische Gefühl empfunden hätte, wenn er mit einer EEG-Haube zum Messen der Gehirnströme verkabelt gewesen wäre. Kaum verwunderlich, dass es bis heute keine Anleitung zu einem Waldbad gibt, das dem Waldbadenden eine vergleichbare philosophische Gotteserfahrung ermöglicht – Spiritualität lässt sich nun einmal nicht messen.

Goetheanismus und Naturgeister

Auch die deutschen Dichter und Denker betrachteten den Wald im Grunde ausnahmslos in dem Bewusstsein, dass es sich um ein belebtes und beseeltes Wesen handelt: Stürmer und Dränger schlossen sich in Hainbünden zusammen und verehrten die Natur als Heiligtum. Für die Romantiker waren rauschende Wälder und urige Eichen der Inbegriff für ewige Weisheit und göttliche Naturgewalt. Der Begriff der „Waldeinsamkeit“ fand sogar Eingang in die weltweite Literatur (und beeinflusste nicht zuletzt den US-amerikanischen Naturphilosophen Henry David Thoreau, der für zwei Jahre als Eremit in einer einsamen Waldblockhütte lebte).

Bekanntermaßen ging auch Goethe für sein Leben gerne waldbaden: „Ich ging im Wald so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn“ (Gefunden). Der Pantheist spazierte jedoch nicht aus Gründen körperlicher Ertüchtigung durchs Waldesgrün, sondern weil er dort der „Gott-Natur“ begegnete. Goethe hatte eine ganz eigene Methode, um das Numinose in der Natur wahrzunehmen, den sogenannten Goetheanismus, bei dem es darum geht, durch die Anschauung des Äußeren eines Phänomens (zum Beispiel eines Baumes) zu der inneren Idee desselben (dem Wesen des Baumes) zu gelangen. Das Universalgenie praktizierte eine „zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird“ (Sprüche in Prosa). Der Begriff „Goetheanismus“ stammt ursprünglich von Rudolf Steiner, für den die Pflanzen und die Bäume wiederum die sichtbar gewordene Seele der Erde sind. Steiner ist sich sicher, dass einstmals alle Menschen über eine solche Wahrnehmungsfähigkeit verfügten, in der sich nicht nur das Sinnliche, sondern auch das Seelische dem hellsichtigen Geiste offenbart: „Da sah der Mensch, wenn der Sonnenschein am Tage schwächer wurde, nicht Symbole der physischen Dinge, sondern die physischen Dinge verschwanden vor seinem Blicke. Der Baum, der vor einem stand, verschwand; er verwandelte sich in Geistiges – die Sagen von den Baumgeistern, sie sind ja nicht ausgedacht von der Volksphantasie, nur ihre Interpretation ist ausgedacht von der im Irrtum wandelnden Gelehrtenphantasie –, der Geist, der dem Baum zugehörte, trat an die Stelle“, erzählte er in einem Vortrag (GA 238).

Das mag für Forest-Mediziner ziemlich esoterisch klingen. Aber ist es nicht zumindest merkwürdig, dass so viele Philosophen und Poeten fürwahr an die Existenz von solchen Baumseelen und Waldgeistern glaubten, ohne jemals auch nur eines zu Gesicht bekommen zu haben? Noch absurder erscheint da nur die Vorstellung, dass es sich bei diesen nebulösen Entitäten in Wirklichkeit um Phytoaerosole handelt: Tatsächlich gibt es in der Forest Medicine die reduktionistische Tendenz, die mythischen Naturgeister mit terpenoiden Baumölen gleichzusetzen, als ließen sich die pantheistischen Gedichte, Gemälde und Gebräuche ganzer Kulturepochen mit dem Geruch von Baumharzen begründen. Was würde Goethe dazu sagen, dass man die Bäume heutzutage auf ihre blanken biochemischen Inhaltsstoffe – Monoterpene, Sesquiterpene und Monoterpenole – reduziert? Goethe würde sagen: „Das Äußere einer Pflanze ist nur die eine Hälfte der Wirklichkeit.“

Das „Baumbewusstsein“

Viele Menschen, die es in einsame Wälder verschlägt, berichten von außergewöhnlichen geistig-seelischen Erlebnissen. Ein modernes Beispiel stammt von Albert Hofmann, jenem mehrfach mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichneten Schweizer Chemiker, der gleichwohl nie auf die Idee kam, sein naturspirituelles Erleben auf die Biochemie des Waldes zurückzuführen. Ausführlich berichtet er von einem Kindheitserlebnis an einem Maimorgen in den Alpen, als „auf einmal alles in einem ungewöhnlich klaren Licht (erschien). Hatte ich vorher nie recht geschaut, und sah ich jetzt plötzlich den Frühlingswald, wie er wirklich war? Er erstrahlte im Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl der Zugehörigkeit und seligen Geborgenheit durchströmte mich.“ Dieses „beglückende Erlebnis“ habe Hofmann „die Gewissheit vom Dasein einer dem Alltagsblick verborgenen, unergründlichen, lebensvollen Wirklichkeit“ gegeben (Einsichten Ausblicke).

Zahlreiche vergleichbare Berichte legen nun den Verdacht nahe, dass es sich beim sogenannten Waldbaden in Wahrheit gar nicht primär um eine körperliche Tätigkeit handelt, bei der man biochemische Substanzen einatmet, sondern um einen ganz besonderen Bewusstseinszustand. Vielleicht so ähnlich wie es Richard Powers in seinem Roman Die Wurzeln des Lebens beschreibt: „Tree-consciousness is a religion of life, a kind of bio-pantheism“. In diesem Sinne lässt sich das Baumbewusstsein als ein naturnoetischer Geistes- und Gemütszustand definieren, in dem sich dem Waldbadenden gewissermaßen das „Wesen das Waldes“ und die „Urbilder der Bäume“ offenbaren – als eine philosophische „Wesensschau“ bzw. „Waldesschau“.

Die moderne Forest Medicine mag so etwas wohl nicht ernst nehmen. Doch kann sie ihrerseits auch nicht erklären, warum so viele weltbewegende Ideen, die das menschliche Geistesleben bis heute prägen, gerade unter Bäumen geboren wurden. Nicht nur Buddha wurde unter einem Baum erleuchtet, auch Rousseau entwickelte während eines Waldspaziergangs seine wirkungsmächtige „Zurück zur Natur“-Philosophie. Erst am Ende seines Lebens war der französische Gelehrte in der Lage, sein außergewöhnliches Naturerlebnis zu reflektieren. Seine Beschreibung liest sich wie ein Lexikoneintrag zum Baumbewusstsein: „Je sensibler die Seele des Beobachters, desto größer die Begeisterung, die jene Harmonie in ihm erweckt. In diesen Momenten sind seine Sinne von einer tiefen und herrlichen Träumerei besessen, und in einem Zustand der seligen Selbstaufgabe verliert er sich in der Unermesslichkeit dieser schönen Ordnung, mit der er sich eins fühlt. Alle einzelnen Objekte entgleiten ihm; er sieht und fühlt nichts als die Einheit aller Dinge“ (Träumereien eines einsamen Spaziergängers). ///

Dr. phil. Thomas Höffgen, Autor und Referent, will wissen, was den Wald im Innersten zusammenhält. Sein neuestes Buch trägt den Titel:
Waldphilosophie. Warum der Wald nicht nur gesund, sondern auch weise macht, € 12,99.
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