Schau mir in die Augen, Menschheit

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Immer mehr Stimmen fordern die „Rückgabe von Freiheiten“ nach erfolgter Impfung oder bei negativem Testergebnis. Aber sobald die Teilnahme am öffentlichen Leben nur noch mit entsprechenden Zertifikaten möglich ist, wird sich verstärkt die Frage nach deren Fälschungssicherheit stellen. Für diesen Fall stehen biometrische Verfahren bereit, die unseren Alltag massiv verändern würden.

Ende Oktober 2020 überraschte der Historiker Yuval Noah Harari in einem Interview mit einer irritierenden Prognose: „Woran werden sich die Menschen erinnern, wenn sie in 50 Jahren an diese Epidemie zurückdenken?“, hatte der T-Online-Redakteur Florian Harms den bekannten Autor gefragt. Harari antwortete: „In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde … die Menschheit verständigt sich jetzt darauf, einen Großteil ihres Lebens online zu verbringen … Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“

Der „schlimmste Fall“ muss aber, wie oft in der Geschichte, nicht unbedingt durch eine als solche identifizierbare autoritäre Einzelmaßnahme (etwa durch einen Staatsstreich) eintreten, sondern durch allmähliche Schritte, die in einer Notlage unausweichlich wirken. Auf ausgeweitete Kontrollmöglichkeiten steuert die gegenwärtige Corona-Politik jedenfalls schon jetzt deutlich zu.

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Wie gesundheitspolitisch begründeten Zwangsregelungen in großem Maßstab funktionieren, macht uns China bereits vor. Allgegenwärtige Video-Observation mit Gesichtserkennung, der Zwang zur Installation spezieller Erkennungs- und Tracking-Software sowie die systematische Auswertung personenbezogener Daten sind in China längst Alltag. Das 2017 verabschiedete Nationale Informationsgesetz, das ebenso wie andere Kontrollmaßnahmen von Amnesty International seinerzeit heftig kritisiert wurde, verpflichtet dort alle Bürger:innen und Unternehmen zur Offenlegung von Daten gegenüber den Behörden. Bei Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 wirkte China mit seinen drastischen Maßnahmen gegen das Virus noch auf viele befremdlich, viele Menschen in Europa hielten einen Maskenzwang und die Abriegelung ganzer Viertel angesichts einer Viruserkrankung für übertrieben. Inzwischen sympathisieren auch wichtige Wirtschaftsvertreter in Deutschland mit den chinesischen Verhältnissen. Michael Hüther etwa, Direktor des Deutschen Instituts der Wirtschaft DIW, sagte in einem Handelsblatt-Artikel vom 29. 10. 2020: „Es ist nicht einzusehen, dass selbstverständlich bei der Pandemiebekämpfung in viele Grundrechte eingegriffen wird, der Datenschutz aber zur heiligen Kuh wird.“ Der SPD-Gesundheitspolitiker Lauterbach möchte die Corona App so umrüsten, dass Daten automatisch weitergegeben werden, außer wenn Nutzer:innen widersprechen. In Staaten wie Israel oder Dänemark ist ein digitaler Impf-Pass als Zugangsberechtigung für den öffentlichen Bereich bereits im Einsatz.

Hararis Warnung

Wäre der Schritt zur zentralen Speicherung einmal getan, würden sich leicht weitere Möglichkeiten öffnen: Staatliche Behörden hätten dann umfassenden Einblick in persönliche Bewegungs- und Verhaltensprofile. Eine polizeiliche Überprüfung von Verstößen gegen Corona-Verbote wäre gar nicht mehr nötig, da beispielsweise Treffen von mehr als den erlaubten Personen in einer Wohnung rein digital registriert und auch sanktioniert werden könnten. Noch naheliegender wäre die zentrale Bündelung von Daten zur Dokumentation des Immunstatus der Bürger:innen per Smartphone, was einen Impfausweis ersetzen und den Zugang zu Reisen, Veranstaltungsbesuchen und vielem mehr regeln würde.

Harari sieht hier einen globalen Trend im Gang: „Das ist die eigentliche Gefahr, die die aktuelle Krise mit sich bringt: Dass die digitale Überwachungstechnologie durch die Gesundheitskrise weltweit legitimiert wird – auch in demokratischen Gesellschaften, die sich zuvor der Überwachung widersetzt haben.“ Mit Recht macht der israelische Autor darauf aufmerksam, dass diese Art von Überwachung nicht auf Corona-Zeiten beschränkt sein muss: „Eine ständige biometrische Überwachung der Bevölkerung würde es erlauben, auch andere Gefahren als Covid-19 zu entdecken. Etwa die alljährliche Grippe oder Krebserkrankungen.“ Und Harari geizt nicht mit Vergleichen, um das Risiko zu bezeichnen, in dem wir uns gerade befinden: „Wir sind heute in der Lage, die perfekte Diktatur zu errichten. Es wäre ein autoritäres Regime, wie es dieser Planet noch nicht gesehen hat. Eine Diktatur, die schlimmer wäre als Nazideutschland oder die Sowjetunion unter Josef Stalin, ist heute denkbar.“

Biometrische Überwachung mit „ID2020“

Die Entscheidung für eine biometrische Überwachung wäre sicherlich die am meisten autoritäre Form der Kontrolle, weil man sich ihr am wenigsten entziehen kann. In den nächsten Monaten ist sie aber durchaus realistisch. Denn immer mehr Menschen sind geimpft und verlangen ihre volle Teilhabe am öffentlichen Leben zurück; Menschen mit negativem Corona-Test wollen zumindest kurzzeitig wieder ins Kino oder einkaufen gehen. Allerorten ist von der „Rückgabe von Freiheiten“ die Rede, obwohl dieses Verständnis von “Freiheit aus der Spritze” auch Widerspruch erfährt. Reisen oder der Besuch von Altenheimen funktioniert aber schon jetzt nur noch mit Vorlage eines Testergebnisses. Wenn, wie Corona-Expert:innen wie Viola Priesemann derzeit voraussagen, demnächst eine zweite Impfwelle gegen die „Escape-Mutanten“ hinzukommen muss (die erst durch die Erst-Impfungen entstanden sind), wird die Lage unübersichtlich. Eine regelmäßige Wiederholung bzw. Neu-Impfung mit Antiviren-Updates wird nötig sein – ebenso wie die solide Dokumentation des aktuellen Impstatus. Sobald den entsprechenden Dokumente eine Schlüsselstellung für jedwede Teilnahme am öffentlichen Leben zukommt, wird sich zunehmend auch die Frage der Echtheit der vorgelegten Impf- und Testzertifikate stellen – schließlich kann jeder und jede an ein Stück Papier oder einen Scan auf seinem Smartphone kommen. Tatsächlich mehren sich seit Mitte April 2021 Berichte über im Internet angebotene, gefälschte Impfdokumente. Einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters vom 8. April 2021 handelt es sich um einen “boomenden Markt” mit hunderten von Angebotsseiten im Internet. Eher früher als später wird hier also eine fälschungssichere Identifizierung „unausweichlich“ – und keine Technik ist so sicher wie die biometrische.

Genau für diesen Zweck ist das bisher umfangreichste Digitalisierungsprojekt der Welt bestens geeignet, das derzeit in New York entsteht: Die Organisation mit Namen ID2020 arbeitet schon seit 2017 an einem global einsatzbaren digitalen Ausweis, der auf Identifizierung durch Scannen der Iris basiert. Wie so oft ist auch hier philantropes Denken mitbestimmend. Denn gerade in Schwellenländern, wo Dokumente auf Papier oder in Form von Plastikarten wenig Wert und Bestand haben, wäre es hilfreich, auf nicht-analoge Speichermedien zurückgreifen zu können. „In Bangladesch hat nur jedes fünfte Kind eine Geburtsurkunde“, berichtet Dakota Gruener von ID2020. „Wir und GAVI erstellen digitale Impfnachweise für Kinder und geben ihnen so auch eine digitale Identität.“ Analog könnte bald die Corona-Impfung Milliarden Menschen zu einer transnationalen digitalen Identität verhelfen, so Gruener.

Doch was genau steht hinter diesem Projekt? „ID2020 ist eine Allianz von Hightech-Konzernen wie Microsoft, der Rockefeller-Stiftung, großer Hilfsorganisationen und der von Bill Gates finanzierten Impfallianz GAVI“, schreibt der verschwörungsideologisch unverdächtige SWR2 in einem Beitrag über ID 2020. Microsoft wird dabei die nötige Blockchain-Technologie bereitstellen. Auch die US-Regierung, die Vereinten Nationen sowie Multinationale Konzerne sind eingebunden – etwa der IT-Riese IBM, der erst kürzlich von der Bundesregierung mit einem Update der Corona-Warn-App beauftragt wurde.

Mit ID2020 kann eine Fülle an Daten über jeden Menschen auf der Erde zentral hinterlegt und ohne weitere Dokumente rein biometrisch abgerufen werden. Die körpergebundene Identifizierung erfolgt hier selbstverständlich nicht, wie es Verschwörungsmythen gern nahelegen, über einen implantierten Chip, sondern viel einfacherer per Iris-Scan. Die so verfügbare neue digitale ID wäre Reisepass, Krankenversicherung und Impfpass in einem – alles im Dienste von Effizienz und Sicherheit. „Bill Gates hat sich zum Beispiel dafür ausgesprochen, dass der Nachweis einer Corona-Impfung die Voraussetzung für grenzüberschreitendes Reisen werden müsse“, so der Bericht.

Überall einsetzbar

Auf Flughäfen sind automatische Gesichtskontrollen auch in Europa schon lange im Einsatz; für die Olympischen Spiele in Japan wurde jetzt ein Erkennungssystem für 300.000 registrierte Personen entwickelt. Die Szenen der Testphase sind beeindruckend – so oder ähnlich könnte es bald überall auf der Welt aussehen, wenn es um Zutrittsprüfungen geht. Die Corona-Krise könnte den Anlass bieten, solche Systeme für die gesamte Bevölkerung und für alle Lebensbereiche verpflichtend zu machen. Schon bald wäre dann zum Betreten eines Konzerts oder eines Restaurants oder eines Bahnhofs der Blick in eine Kamera erforderlich, die datentechnisch mit dem ID2020-System (oder einer vergleichbaren Datenbank) verbunden ist. Die dazu nötige Technik lässt sich heute auf jedes einigermaßen leistungsfähige Smartphone aufspielen – ein kurzer Blick auf ein am Eingang platziertes Handy genügt dann für die Abklärung des Impfstatus.

Ein solcher Sicherheitscheck wäre unkompliziert bis zum kleinsten Spätkauf an der Ecke möglich. Vom Betreten des Büros am Morgen über den Einkauf bis zum Restaurantbesuch am Abend: Zutritt nur noch nach Iris- beziehungsweise Gesichtskontrolle. Das ist ein Bild von Orwell’scher Dimension, das in vor-corona-Zeiten noch heftige Debatten ausgelöst hätte, aber angesichts der Corona-Einschränkungen schon bald als „unausweichlich“ akzeptiert werden wird – wir wollen ja schließlich unsere „Freiheiten“ zurück, wie Politiker:innen und Intellektuelle schon jetzt in Aussicht stellen. Könnte Harari schneller Recht bekommen als uns allen lieb ist? ///

Dieser Artikel basiert auf einem bereits im Dezemberheft der Zeitschrift info3 erschienenen Text, der angesichts der jüngsten Entwicklungen aktualisiert wurde.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.