Mit Anthroposophen, aber ohne Anthroposophie

Anthroposophieforschung à la Zander – ein Sammelband für Sie gelesen.

2007 mischte Helmut Zander mit seiner fast 2000seitigen Anthroposophie in Deutschland das Feld der Beschäftigung mit Anthroposophie ziemlich auf: Vorgelegt hatte er damals eine umfassende Kontextualisierung weiter Teile des Werkes Rudolf Steiners. Woher hat Steiner was übernommen – das war die Hauptfrage, die von ihm materialreich beantwortet wurde und den historisch-kritischen Umgang mit Anthroposophie enorm befördert hat. Seither gilt der stets verbindlich auftretende katholische Theologe als der nicht-anthroposophische Fachmann für Anthroposophie.

Mit der eben erschienenen, gemeinsam mit Viktoria Vitanova-Kerber herausgegebenen – und komplett auch online verfügbarenAnthroposophieforschung geht er nun einen Schritt weiter: Er will einen „Überblick über den Stand der Forschung“ geben, mindestens „eine erste Abhilfe“ schaffen. Herausgekommen sind acht Beiträge, die auf ein Forschungsatelier im Jahre 2019 zurückgehen. Von einem echten Überblick kann dann allerdings doch keine Rede sein, bestenfalls handelt es sich um einige Stichproben, die ergänzt werden um eine umfassende Forschungsbibliographie, die sowohl nach Ländern wie nach Themen geordnet und teilweise kommentiert ist.

„Die ursprüngliche Absicht, ausschließlich wissenschaftliche Literatur und Quellen aufzunehmen, ließ sich nicht durchhalten; für manche Stichworte gäbe es sonst (fast) keine Literatur; auch weltanschaulich aufgeladene, auf Sinnstiftung angelegte anthroposophische Werke enthalten oft Informationen, die für die wissenschaftliche Arbeit relevant sind.“ Manche Abschnitte der Forschungsbibliographie bestehen fast ausschließlich aus anthroposophischen Autoren – Zander spricht ihnen zumindest partiell sogar die Fähigkeit zu wissenschaftlichem Arbeiten zu! Für ihn dürfte die Aufnahme anthroposophischer Autoren einem Paradigmenwechsel gleichkommen; zugleich konterkariert die umfassende Literaturübersicht Zanders nörgelige, in der Einleitung vorgetragene Liste der angeblichen Forschungsdesiderate.

Drei der acht Textbeiträge widmen sich soziologisch-historischen Aspekten der Anthroposophie: Wir erfahren etwas über Anthroposophie in Bulgarien und in Rumänien, und Ansgar Martins stellt Einige Entwicklungen und Neuansätze in der deutschsprachigen Anthroposophie nach dem Tod Rudolf Steiners 1925 dar. Das ist durchaus interessant. Derzeit sieht er eine neue anthroposophische Subkultur hervortreten: „die partielle Verschmelzung mit der zeitgenössischen Verschwörungsesoterik“. Naja.

Ein ausführlicher Beitrag befragt den Einfluss Rudolf Steiners auf die Malerin Hilma af Klint. Vorab untersucht Zander Aspekte des esoterischen Umfelds von Rudolf Steiner, das weniger deutliche Abgrenzungen als eine Vielzahl von gegenseitigen Bezugnahmen erlaubt. Marty Bax versucht allerdings anschließend die Vielfalt zu reduzieren und darzulegen, der Weg Klints zur Abstraktion gehe gar nicht auf Steiner, sondern auf den schwedischen radikalen Pietismus zurück. Das gelingt ihr nicht sehr überzeugend, die Quellenlage ist und bleibt wohl auch einfach uneindeutig und die Bezugnahmen auf esoterische Motive kann die Kunsthistorikerin Marty Bax nicht wirklich aufschlüsseln.

Drei weitere Beiträge haben dann das Werk Rudolf Steiners im engeren Sinne zum Gegenstand. Stéphanie Majerus untersucht mit qualitativen Interviews und teilnehmender Beobachtung auf landwirtschaftlichen Betrieben durchaus verständnisvoll die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Die beiden anderen Beiträge bilden Tief- und Höhepunkt des Bandes.

 Ann-Kathrin Hoffmann widmet sich der Bedeutung des Intellektualismus für die Waldorfpädagogik. Dafür trägt sie zahlreiche Steiner-Zitate zusammen, etwa über die historische Bedeutung des Intellektualismus und seine Notwendigkeit für die weitere Entwicklung. Sie gibt auch wieder, dass Steiner sich gegen eine zu frühe Intellektualisierung verwahrt und charakterisiert die Pädagogik der ersten beiden Jahrsiebte zutreffend. Das dritte Jahrsiebt, in dem die Ausbildung der Intellektualität ja dann ihren altersgemäßen Platz hat, lässt sie allerdings weg. Nur so kann sie am Ende das ansonsten völlig unbegründete Fazit ziehen: „Eine Pädagogik, die ihre Zuflucht im natürlich-Konkreten respektive dem Geistigen als harmonischem Sehnsuchtsort sucht und eine Absage an die abstrakte, als intellektualistisch diskreditierte Denkweise und Gesellschaft erteilt, droht, die ihr anvertrauten Individuen als Ohnmächtige einer als feindlich vorbestimmten, nicht durchschaubaren Gesellschaft preiszugeben.“ Mit Blick auf die für den ganzen Band geforderte Wissenschaftlichkeit ist dieser Aufsatz wirklich erstaunlich. Man kann an diesem Aufsatz gut beobachten, wie Anthroposophieforschung in unsachliche Kritisiererei umschlagen kann.

Ganz anders der Beitrag von Hartmut Traub. Er identifiziert das Problem, dass mit verschiedenen Textsorten Steiners unreflektiert umgegangen wird und entwickelt eine Dreiheit jeweils unterschiedlich zu erforschender Textsorten. Zwischendurch finden sich kleine Einschübe der impliziten Kritik an mindestens einigen Aspekten des vorliegenden Bandes: So „versichern sich beide Seiten [Anthroposophie und akademische Wissenschaft] ihrer eigenen Identität (auch) durch Abgrenzung und Negation des Anderen.“ Das hat seit der Aufklärung zur Zurückweisung esoterischen Wissens im Allgemeinen geführt, und das tut auch Zander für die Anthroposophie (S.8): „Steiners übersinnliche Einsichten“ seien nicht „Gegenstand eines wissenschaftlichen Zugriffs“. Daraus ergibt sich dann strenggenommen allerdings eine Anthroposophieforschung ohne Anthroposophie.

Da ist Traubs „vom Prinzip des Wohlwollens“ ausgehender „dialogorientierter Ansatz“ doch wesentlich konstruktiver. Davon kann eine gediegende Anthroposophieforschung, die sich nicht nur mit Umständen und Kontexten beschäftigt, ausgehen.

Viktoria Vitanova-Kerber, Helmut Zander (Hrsg.): Anthroposophieforschung. Forschungsstand – Perspektiven – Leerstellen. De Gruyter 2023, € 59,95. In Gänze auch als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com

Eine Buchkritik aus der Ausgabe Oktober 2023 der Zeitschrift info3.

Über den Autor / die Autorin

Anna-Katharina Dehmelt

Anna-Katharina Dehmelt, Jahrgang 1959, studierte Musik, Wirtschaftswissenschaft und Anthroposophie. Sie hat intensiv auf dem Feld der anthroposophischen Meditation gearbeitet, geforscht, vernetzt und anthroposophisches Meditieren bekannt gemacht, zuletzt auch mit dem von ihr begründeten Institut für anthroposophische Meditation. Zudem ist sie Dozentin an verschiedenen anthroposophischen Ausbildungsstätten.
Seit Mai 2021 ist sie Redakteurin bei info3.

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