An mediale Angriffe gegen die Anthroposophie hat man sich in den letzten beiden Jahren so sehr gewöhnt, dass man als Anthroposoph schon fast froh ist, in dem Artikel Was hilft’s? von Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ vom 15. August nicht gleich als Anti-Demokrat oder Rassist tituliert zu werden (Originaltext hinter Paywall). Aber als Anhänger dieser „esoterischen Glaubenslehre“ ist man heute bereits ausreichend als erledigt zu betrachten, weil man schließlich an „obskure, absurd anmutende Theorien“ glaubt. Für den FAZ-Autor ganz unbegreiflich macht sich dieser Unsinn heute jedoch in praktisch allen Lebensbereichen erfolgreich geltend, von Unternehmen wie Alnatura und der GLS Bank bis hin zu den Waldorfschulen. Und spätestens hier wird es natürlich gefährlich. Viele Menschen auch im Waldorf-Umfeld haben Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Coronamaßnahmen gezeigt. „Baseler Soziologen sehen das Alternativ- und anthroposophische Milieu im Südwesten Deutschlands als eine ‚zentrale Quelle‘ der (Querdenker-)Bewegung“, bemüht Feldwisch-Drentrup zum wiederholten Mal eine längst von den Autoren Frei und Nachtwey selbst als nicht repräsentativ eingeschränkte Studie, in der sich übrigens die befragten Verantwortlichen anthroposophischer Einrichtungen allesamt klar von Coronaskeptikern distanziert hatten. Nicht das wird aber wiedergegeben, sondern die immer gleiche, im Kern unbelegte These des Basler Autoren-Duos.
Aber es geht dem Autor ja auch nicht um Information oder echte Recherche. Das zeigt sich ganz besonders im Herzstück seines Artikels, das sich die Anthroposophische Medizin vornimmt. Schließlich ist Feldwisch-Drentrup Mitgründer des Blogs Medwatch und hat sich den Kampf gegen Scharlatanerie in der Medizin auf die Fahnen geschrieben – eine wichtige Sache, würde da nicht die Falle lauern, zum Hammer zu werden, für den die Welt nur noch aus Nägeln besteht. Anstelle einer Auseinandersetzung in der Sache genügt ihm dann als Argument, dass sich die Anthroposophische Medizin von der „Schulmedizin“ abgrenzen wolle und dass „die Nationalsozialisten von ‚verjudeter Schulmedizin‘ sprachen“ – da können zwar Anthroposophen nichts dafür, aber sie wirkt, die Antisemitismus-Keule: der Gegner moralisch erledigt, jeder weitere Dialog überflüssig
Selbstverständlich hat der Autor auch für die inzwischen von zehntausenden Betroffenen geschätzte anthroposophische Misteltherapie bei Krebs nichts übrig. „Anthroposophen führen zwar gerne Studien zu angeblich positiven Mistel-Wirkungen an, doch verlängern sie das Leben von Krebspatienten laut dem unabhängigen Krebsinformationsdienst nicht“, behauptet Feldwisch-Drentrup. Als Medizin-Journalist könnte er aber zum Beispiel die randomisierte Studie Lebensqualität von Patienten mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom unter Misteltherapie kennen, in der es heißt: „Patienten in lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Stadium hatten unter Misteltherapie gegenüber Patienten der Kontrollgruppe eine bessere Lebensqualität und ein verlängertes Gesamtüberleben.“ Erschienen ist das 2014 im Ärzteblatt – für Feldwisch-Drentrup offenbar nur eine Art Schwurbel-Magazin. Man kann aber auch noch anders versuchen, die Misteltherapie schlechtzumachen, indem man ihr eine geradezu tödliche Wirkung andichtet. Eine Entscheidung für die Mistelbehandlung könne nämlich „dazu führen, dass Patienten sich nicht mit wirksamer Medizin behandeln lassen“, folgert der FAZ-Autor unter Berufung auf den „Frankfurter Religionsphilosophen Ansgar Martins, der sich intensiv mit Anthroposophie beschäftigt“ – und der hier nun bei Bedarf offenbar auch als Medizinexperte zur Verfügung steht.
Es folgen weitere moralische Herabsetzungen von Menschen, die sich mit der Anthroposophie verbunden fühlen: Sie hätten eine „zutiefst autoritäre Grundstruktur“ und ihre nichtsdestotrotz individualistischen Ansätze könnten sich zu „asozialem Verhalten entwickeln“. Besonders schlimm findet es der Autor, wenn Anthroposophen für den Umgang mit Krankheiten die Frage des Karmas einbeziehen – was für anthroposophische Mediziner im Übrigen nie etwas mit Schuld zu tun hat, sondern mit dem Versuch, sich in ein psychosomatisch souveräneres Verhältnis zur eigenen Erkrankung zu bringen. Enttäuscht vermeldet Feldwisch-Drentrup, ein von ihm angefragter Vertreter vom Dachverband für Anthroposophische Medizin habe ihm nicht mitgeteilt, „ob er an die Existenz eines Äther- oder Astralleibs glaubt.“ Soviel inquisitorischer Eifer muss sein! Dann wird zum tausendsten Mal gegen den Lehrstuhl von Harald Matthes in Berlin geschossen, fast so, als hätte Feldwisch-Drentrup persönlich diese für den Mainstream so ärgerliche komplementärmedizinische Professur an der Charité investigativ enthüllt.
Nun ist aber noch etwas schier Unfassbares passiert, das in der FAZ angeprangert werden muss: Anthroposophen fangen an, sich gegen die unausgewogene Berichterstattung über sie zur Wehr zu setzen! „Es reicht!“, wird die Sprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen zitiert, es sei genug mit den Falschmeldungen. Öffentlicher Widerspruch ist offenbar ein Unding. Schließlich macht sich der FAZ-Autor auch noch mit dem umstrittenen Blogger Oliver Rautenberg gemein, der unter anderem im Antifa-Blatt Der rechte Rand veröffentlicht und dessen „Recherchen“ zuletzt der Bayerische Rundfunk auf den Leim gegangen war. Der Sender hatte bei “Possoch klärt” – unter Berufung auf Rautenberg – die Behauptung in die Welt gesetzt, dass erst die Alliierten nach Ende des Weltkriegs anthroposophische Einrichtungen geschlossen hätten (in Wirklichkeit waren es die Nazis gewesen, die die Anthroposophie früh verboten hatten). Gegen diese rufschädigende Unwahrheit, die bis heute in der Mediathek des Senders herumgeistert, geht die Anthroposophische Gesellschaft derzeit juristisch vor. Oliver Rautenberg – ein missverstandenes Opfer der Anthroposophen?
Im Artikel folgen noch eine Collage aus mehr oder weniger anthroposophisch wirken sollenden Aussagen über Corona, die natürlich möglichst unsinnig und wirr daherzitiert sind, dann noch einmal ein geradezu detektivischer Hinweis des Experten Helmut Zander, die Anthroposophische Medizin hätte vor gut zehn Jahren einen „Masterplan zur Akademisierung“ geschmiedet. Und das, oh Schreck, hätte nun auch noch Erfolg, und zwar ganz weit oben: „Wie die WHO dieser Zeitung bestätigt, werden dort Standards für die Ausbildung anthroposophischer Ärzte erarbeitet“. Das schreit eigentlich nach einer Fortsetzung in der FAZ: „Wie Anthroposophen die Weltgesundheitsorganisation unterwandert haben“ – wenn das nicht doch zu sehr nach einer Verschwörungstheorie klingen würde, die man sonst gern den Anthroposophen andichten möchte.
Die Frage bleibt: Wie kommt dieses journalistische Recycling, das keine neuen Erkenntnisse liefert und sich bei einem fragwürdigen Blogger bedient, auf Seite 1 des Feuilletons der FAZ? Gäbe es nicht qualitätvollere Möglichkeiten, sich – durchaus auch kritisch – mit dem Phänomen Anthroposophie auseinanderzusetzen?