Ist Anthroposophie wissenschaftlich? Der “Skeptiker” stellt (manchmal falsche) Fragen

Cover des Skeptiker 2/23 (Ausschnitt)

Markantere Gesichtszüge, als wir sie sonst von ihm kennen, der Blick etwas bedrohlich – ein von einer künstlichen Intelligenz erzeugter Rudolf Steiner schaut vom Cover des neuen “Skeptiker”, der von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) herausgegebenen Vierteljahresschrift. “Was ist Anthroposophie?” und Rassismus bei Rudolf Steiner sind die beiden Schwerpunktthemen, die der Skeptiker zum Thema Anthroposophie-Kritik bringt, verfasst von André Sebastiani und Ansgar Martins.

Vorab: Die beiden Beiträge sind sachlich gehalten, der hämisch-zynische Ton der Anthroposophie-Kritik, der sich in der letzten Zeit vielerorts fand, wird weitgehend vermieden und wirkliche Fehler finden sich kaum. Aber es gibt andere, subtilere Mittel entstellender Kritik, die sich an beiden Texten ganz gut studieren lassen und die dazu führen, dass beide Texte an der Sache dann doch ziemlich vorbeigehen. Sich (stellvertretend für die Anthroposophie) vom Skeptiker verstanden fühlen zu wollen, wäre allerdings auch ein merkwürdiges Ansinnen, ist die Skeptiker-Bewegung doch angetreten, Unwissenschaftlichkeit oder was sie dafür hält zu bekämpfen.

Rudolf Steiner wird von André Sebastiani vorgestellt als „Esoteriker“, als „Keimzelle der Anthroposophie“ nennt er die Theosophie Blavatskys. Das ist nicht falsch, aber es verengt von Anfang an den Fokus. Steiner hat Naturwissenschaften studiert, Goethe herausgegeben und er war als Philosoph promoviert – davon kein Wort. Die Theosophie Blavatskys hat sicherlich bedeutenden Einfluss auf Steiners Werk gehabt, ob sie nun aber gerade dessen „Keimzelle“ war, ist mehr als fraglich. Wobei diese Zuschreibung noch einigermaßen nachvollziehbar ist, denn das Kleid, in das Steiner seine Anschauungen kleidete, ist tatsächlich für die Zeit von 1902 bis mindestens 1912 aus dickem theosophischen Stoff gewebt – von heute aus gesehen übrigens eher eine Last, die die Anthroposophie zu tragen hat und die die Ausgestaltung einer philosophisch-wissenschaftsorientierten Anthroposophie, die Rudolf Steiner vor allem ab 1917 intensiv angestrebt hat (zum Beispiel in seinem Werk Von Seelenrätseln), erschwert hat und bis heute erschwert.

Im Text von Sebastiani folgt dann unter der Zwischenüberschrift „Was glauben Anthroposophen?“ eine stichwortartige Wiedergabe anthroposophischer Grundbegriffe. Es beginnt mit der von Steiner „erfundenen“ Evolutionserzählung, die Darwins Evolutionstheorie auf den Kopf stellt, hervorgehoben wird der „streng lineare Geschichtsverlauf“ und der „Eurozentrismus“. Von Reinkarnation und Karma heißt es richtig, Anthroposophen glaubten, „über das Karma an der kosmischen Evolution der Menschheit mitzuarbeiten“. Zynisch hingegen sei, „dass sich Menschen die Geburt in den Elendsregionen der Welt selbst aussuchen, um Defizite aus vorherigen Inkarnationen auszugleichen“ – was sich so bei Steiner allerdings nirgends findet. Es folgt die „Hüllenanthropologie“, also die Lehre von den Wesensgliedern (ohne weitere Erklärung) nebst Jahrsiebten und Temperamenten. Für die Jahrsiebte gäbe es keinerlei wissenschaftliche Belege und die Temperamentenlehre sei schon zu Steiners Zeiten überholt gewesen.

Am erstaunlichsten ist der Absatz „Anthroposophische Erkenntnis“: Steiner traut dem Menschen eine Erweiterung seiner Erkenntnismöglichkeiten zu, womit er hinter Kant zurückfiele, und er sei überzeugt gewesen, „unumstößliche Wahrheiten zutage“ zu fördern. „In der universitären Wissenschaft hingegen steht letztlich alles zur Disposition“, zitiert Sebastiani Helmut Zander.

Die Frage nach der Wissenschaft stellt sich auch in der anthroposophischen Szene

Die Wiedergabe Sebastianis zielt darauf ab, Anthroposophie als außerhalb jeder Wissenschaftlichkeit stehend und als mit Wissenschaft unvereinbar zu charakterisieren. Das ist übrigens auch innerhalb der anthroposophischen Szene selbst ein großes Thema: Manche meinen, der Wissenschaftsbegriff sei heute auf die Anthroposophie überhaupt nicht mehr anzuwenden, weil er – unter anderem von der Skeptikerbewegung – auf empirische und reduktionistische Forschung verengt worden sei: eine Verengung, die auch Philosophie und hermeneutisch orientierte Wissenschaften ausschließt. Andere möchten „Wissenschaft“ durch „Rationalität“ ersetzen und so die philosophischen Aspekte der Anthroposophie und die anthroposophische Erkenntnismethodik – die Sebastiani überhaupt nicht erwähnt – innerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens halten. Und dann gibt es noch die umfassenden Bemühungen, die Wirksamkeit anthroposophischer Praxis durch empirische Studien innerhalb der heute gängigen Wissenschaftsparadigmen nachzuweisen.

Aber taugen Sebastianis Einwände überhaupt, um der Anthroposophie Wissenschaftlichkeit abzusprechen? Mit seiner These, dass das Herz keine Pumpe sei, stellt Steiner sich tatsächlich in unmittelbaren Gegensatz zur geltenden Wissenschaft. Dies gilt aber nicht in gleichem Maße für die Evolutionstheorie. Hier will Steiner gar nicht mit den Ergebnissen Darwins und (für Steiner damals wichtiger) Haeckels konkurrieren – vielmehr stellt er der aufsteigenden Evolutionsreihe eine Erzählung entgegen, die auf einer anderen Ebene liegt als der Darwinismus. Hält dieser sich an die äußerlichen Befunde und die Schlüsse, die man daraus ziehen kann (und die Steiner durchaus anerkennt), sucht Steiner nach Triebkräften und sinnstiftenden Erklärungen für Fragen, die auch der Darwinismus offen lässt. Was in Welt und Mensch dadurch geschieht und sich verändert, dass Tag und Nacht sich abwechseln, sich zwei Geschlechter ausbilden oder Lebewesen sterben, sind Fragen, die sich rein naturwissenschaftlich gar nicht beantworten lassen – an solchen Stellen setzt die Anthroposophie an. Sie will die äußere Wissenschaft ergänzen, nicht ihr widersprechen. Und Steiners von Sebastiani zitierte Hoffnung, dass „Tatsachenforschung hinsteuert zu dem Ziele, das sie in gar nicht zu ferner Zeit in volle Harmonie bringen wird mit dem, was die Geistesforschung aus ihren übersinnlichen Quellen für gewisse Gebiete feststellen muss“, ist nicht auf Bestätigung seiner Anschauung durch die Naturwissenschaft gerichtet, sondern eben auf Harmonie, auf ein Zusammenstimmen, nicht auf Gleichheit. In den Lebenswissenschaften und der Ökologie findet sich solche Harmonie übrigens tatsächlich immer mehr ein.

Wir verzichten darauf, hier die weiteren Punkte Sebastianis zu beleuchten. Erstaunlich ist jedoch, dass er die ergebnisoffene, vorurteilslose Herangehensweise, die sich die moderne Wissenschaft so gerne zugute hält, selbst gar nicht praktiziert. Steiner selbst hat nie behauptet, unumstößliche Wahrheiten zu verkünden (auch wenn manche seiner Anhänger sein Werk so behandeln). Vieles – übrigens auch seine Anthropologie – hat er zeitlebens in Fluss gehalten: 1904 in der Theosophie geht er sie ganz anders an als 1910 in der Geheimwissenschaft und wiederum anders 1917 in Von Seelenrätseln. Dass es für die Jahrsiebte keine äußeren Belege gibt, mag sein, aber die Zäsuren, die Zahnwechsel, Pubertät und Wachstums- oder Gehirnreife setzen, sind doch kaum zu bestreiten. Die vier Temperamente kann man natürlich empirisch nicht beweisen, sie gliedern aber charakterliche Eigenschaften auf eine Weise, die viele Pädagogen als fruchtbar und hilfreich empfinden.

Statt Glauben und Wissen: Verstehen

„Fest steht, dass es in der Anthroposophie zahlreiche Inhalte gibt, die man glauben muss, weil man sie nicht wissen kann“, fasst Sebastiani seine Überlegungen zur Wissenschaftlichkeit zusammen. Aber das ist eben genau der falsche Maßstab. Es geht in der Anthroposophie nicht um Glauben und Wissen, sondern um Verstehen: der Anthroposophie, des Menschen und der Welt. Dies ist ein fortwährender Prozess, der ab einem gewissen Grad der Schulung bedarf – ein Aspekt, den Sebastiani ebenfalls völlig ignoriert. Steiner und viele seiner Schüler haben unendlich viel Mühe darauf verwendet, Themen, die früher dem Glauben vorbehalten waren, in rationale, also verstehbare Formen zu gießen. Dadurch entsteht die Möglichkeit des Nachvollzugs, des Austauschs und der Korrektur – Tugenden, die in einer wissenschaftlich orientierten Gesellschaft durchaus etwas wert sind. Dieses Verstehen liegt nur auf einer anderen Ebene als das rein äußerliche Wissen und Zur-Kenntnisnehmen, das leicht zu haben ist, während Verstehen etwas mehr Anstrengung kostet. Bei der Relativitätstheorie, molekularer Genetik oder Luhmanns Systemtheorie sieht das jeder ein – warum gilt das eigentlich nicht für die Anthroposophie?

Für Sebastiani ist Anthroposophie Weltanschauung oder Religion, da legt er sich allerdings nicht fest. Und damit könnte er sie eigentlich ad acta legen. Weil sie aber nach so vielen Seiten hin anschlussfähig und manchmal auch widersprüchlich sei – hier wird dann von ihm doch noch die Corona-Pandemie ins Feld geführt – „gilt es für Skeptiker weiterhin, ein wachsames Auge auf die Bewegung zu haben“. Nach allem Vorherigen fragt man sich aber doch: „Warum eigentlich?“

Ansgar Martins Kerbe

Während man mit Sebastiani ganz gerne über seine Ausführungen diskutieren würde, erweckt der zweite Aufsatz von Ansgar Martins kein solches Bedürfnis. Etwas grob zusammengefasst, arbeitet Martins sich an der Website der Anthroposophischen Gesellschaft Anthroposophie gegen Rassismus ab und will daran zeigen, dass die Aufarbeitung von „Rudolf Steiners Rassismus“ nur sehr schleppend verlaufe. Kann man seiner Kritik auch im Einzelnen an manchen Stellen durchaus zustimmen, so verwundert doch sein Framing: Das umfangreiche, auf Jahre angelegte Projekt zur Reform des Geschichtsunterrichts an Waldorfschulen, mit der eurozentrische Sichtweisen überwunden werden sollen, wird gleich gestellt mit dem Literaturverzeichnis einer Waldorf-Lehrveranstaltung, in dem sich zwei fragwürdige Bücher finden. Auch auf der Website Anthroposophie gegen Rassismus stören Martins vor allem die Literaturangaben; darüber hinaus korrigiert er einige auf der Website enthaltene Texte von Wolfgang Müller. Martins‘ Text erweckt insgesamt den Eindruck, die Mängel der Website gäben ein zutreffendes Bild des aktuellen Umgangs mit problematischen Aspekten in Steiners Werk. Auf die ebenfalls auf der Website enthaltenen zahlreichen und zum Teil mehr als eindeutigen Stellungnahmen anthroposophischer Verbände geht Ansgar Martins genauso wenig ein wie auf das Frankfurter Memorandum, das seit 2008 Maßstäbe setzt. Und völlig ignoriert Martins die tatsächliche Praxis unter Anthroposophen und Waldorfschulen, die Steiners Eurozentrismus, Antisemitismus und Rassismus, die sich tatsächlich an manchen Stellen seines Werks finden, weit hinter sich gelassen haben. Ansgar Martins selbst hat 2012 mit seiner Studie Rassismus und Geschichtsmetaphysik die Aufarbeitung des Umgangs mit Rassismus in der Anthroposophie maßgeblich mit angestoßen – die Gelegenheit zur Veröffentlichung hat ihm übrigens der anthroposophische Info3 Verlag gegeben. Die Kerbe, in die er damals geschlagen hat, hat sich sehr verändert – das will er offensichtlich nicht wahr haben. So legt man seinen Text etwas gequält beiseite.

Auch Sebastianis Text ist natürlich keine Freude für einen Anthroposophen, und doch stellt er Fragen, mit denen auch in anthroposophischen Kreisen gerungen wird. Man darf gespannt sein, wohin das noch führt. 

Über den Autor / die Autorin

Anna-Katharina Dehmelt

Anna-Katharina Dehmelt, Jahrgang 1959, studierte Musik, Wirtschaftswissenschaft und Anthroposophie. Sie hat intensiv auf dem Feld der anthroposophischen Meditation gearbeitet, geforscht, vernetzt und anthroposophisches Meditieren bekannt gemacht, zuletzt auch mit dem von ihr begründeten Institut für anthroposophische Meditation. Zudem ist sie Dozentin an verschiedenen anthroposophischen Ausbildungsstätten.
Seit Mai 2021 ist sie Redakteurin bei info3.

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