Masernschutzgesetz im Alltag: „Kinder nicht reinzulassen ist unvorstellbar“

Viola Sattelkau leitet den Waldorfkindergarten in Saulheim. Foto privat.

Am 01. März 2020 ist das Masernschutzgesetzt in Kraft getreten. Was bedeutet das für den Alltag im Kindergarten? Info3 hat mit Viola Sattelkau gesprochen, Leiterin des Waldorfkindergartens in Saulheim südlich von Mainz, der vierzig Kinder zwischen eineinhalb und sechs Jahren beherbergt.

Frau Sattelkau, seit wann beschäftigt Sie das Thema Masernimpfung?

Seit Längerem, denn es gibt ja bereits seit geraumer Zeit eine gesetzlich verpflichtende Veränderung in den Aufnahmebedingungen. Seit etwa zwei Jahren müssen wir die Impfberatungsnachweise, die ab der U3 in der vierten bis fünften Lebenswoche in die gelben Untersuchungshefte eingetragen werden, einsehen. Das heißt, seitdem müssen wir uns in den Aufnahmegesprächen die U-Hefte vorlegen lassen, haben eine Dokumentationspflicht und sind meldepflichtig. Bereits das hat unsere Rolle gegenüber Eltern verändert. In Aufnahmegesprächen geht es darum, Vertrauen aufzubauen, mehr und mehr mussten und müssen wir nun auch eine Kontrollfunktion übernehmen. Da muss man sich erst reinfinden, die richtigen Worte finden. Das hat viel Empörung ausgelöst – nicht nur in Waldorfeinrichtungen, sondern auch auf kommunaler Leitungsebene.

Was empört derzeit am meisten?

Sowohl im Kollegium als auch in der Elternschaft gibt es unterschiedliche Haltungen zum Thema Impfen, jedoch eine einheitliche Haltung zum Thema freie Entscheidung. Das ist das, was uns als Kollegium vereint. Impfen muss, soll, darf aus meiner Sicht nur freiwillig geschehen und nicht durch einen Gesetzeszwang. Dazu gehört auch, dass der Impfstoff nicht einzeln verabreicht werden kann, man also zu einer Mehrfachimpfung gezwungen ist.

Hinzu kommt: Wir haben ja alle keine medizinische Ausbildung. Das heißt, wir können einen Impfpass nicht unbedingt richtig lesen. Jetzt beschäftigen wir uns also auch mit Anleitungen zum Lesen von Impfpässen, es gibt ältere und neuere Versionen, sowie mit der Frage: Wie muss eine ärztliche Bescheinigung aussehen, worauf muss ich achten? Offen gesagt, wenn ich mir so etwas vorlegen lasse, kann ich nicht erkennen, ob das eventuell auch gefälscht ist. Denn das gibt es mittlerweile.

Dann kommt noch ein anderes Thema hinzu. In dem Moment, in dem ich personenbezogene, sensible, gesundheitsbezogene Daten erhebe, greift die Datenschutzgrundverordnung. Ich müsste jetzt eigentlich bei jeder Neuaufnahme zum einen dokumentieren, ob ein ausreichender Masernschutz vorliegt, muss das hinterlegen und müsste dann das Hinterlegen des Hinterlegens dokumentieren: Warum, wieso und wie ich diese Daten erhoben habe. Das ist etwas, da weigern sich Leitungskräfte, nicht nur im Bereich der Waldorfkindergärten.

Wie gehen Sie im Kollegium mit der Impfplicht für die Mitarbeitenden um?

Da warten wir die Frist zum 31.07.2021 ab. Grundsätzlich ist es ein massiver Eingriff in die Entscheidungsfreiheit eines jeden. Aber es betrifft nur die Mitarbeitenden, die nach 1970 geboren sind, alle anderen müssen weder etwas nachweisen noch haben sie mit Konsequenzen zu rechnen. Für jede*n Einzelne*n aber auch für die Einrichtung verändert das ein Stück weit das Klima.

Wie würden Sie diesen Klimawandel beschreiben?

Es gab bei Informationsgesprächen mehrfach die Situation, dass Eltern nachgefragt haben, ob denn das Masernschutzgesetz auch für unsere Einrichtung greift. Es gibt Familien, die würden das gerne umgehen.

Ganz konkret wurden wir schon gefragt, ob wir die Kinder nicht etwas früher aufnehmen können, um den Stichtag, 1. März 2020, ab dem das Gesetz greift, zu entgehen. Dann gibt es Eltern, die sich die medizinische Kontraindikation attestieren lassen – also: das Kind ist krank und kann gerade nicht geimpft werden. Das bedeutet für die Einrichtungsleitung, dass ich nach zwei Wochen den Nachweis erneut einfordern muss, dann können die Eltern mir noch einmal ein Attest vorlegen und ich muss wieder innerhalb einer Frist nachfragen. Diese Verzögerungstaktik bedeutet für uns Mehrarbeit und verändert etwas im Miteinander.

Zudem ist es nicht einfach, wenn mir Eltern gegenüberstehen, die sich gut auskennen und mit Vehemenz ausführen, was diese Impfung für sie und ihr Kind bedeutet – Ängste und Sorgen, die ich verstehe; und es führt dennoch kein Weg daran vorbei, sonst kann das Kind bei uns nicht aufgenommen werden. Schwierigkeiten gibt es immer mal wieder, früher konnte man dann einen Kompromiss finden. Hier gibt es keinen. Das ist eine Haltung, die ich früher Eltern gegenüber nie einnehmen musste.

Wenn ich ein Kind aufnehme, wissend, dass keine ausreichende Immunisierung vorliegt, bin ich meldepflichtig, dann kann das Gesundheitsamt mir als Einrichtungsleitung ein Strafgeld verordnen. Das darf nicht aus dem Vereinsvermögen bezahlt werden, also aus dem Trägervermögen, sondern das ist personenbezogen. Ich selbst zahle das Strafgeld bis zu einer Höhe von 2500 Euro, nicht die Eltern, nicht der Trägerverein, nicht die Vereinigung der Waldorfkindergärten.

Bekommen die Kinder die Veränderungen mit?

Ja, das haben wir auch schon im Freispiel von den Kindern gehört: „Alle Menschen, die in den Kindergarten reingehen wollen, müssen Spritzen kriegen.“ Dieses Szenario wird hier durchgespielt und macht dadurch deutlich, wie präsent das Thema in den Familien ist.

Von der Vereinigung der Waldorfkindergärten haben Sie sicher Leitlinien bekommen?

Ja, allein die Zeit, die ich in den vergangenen Wochen investiert habe, um alle Informationen, die zur Verfügung stehen, durchzuarbeiten – ich habe die Stunden nicht gezählt, aber es sind viele. Da kommen Infos von der Vereinigung der Waldorfkindergärten, vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, in dem wir Mitglied sind, vom Bund der Waldorfschulen, von unterschiedlichen Behörden. Das sind Handlungsleitlinien. Auch von den Ärzt*innen für freie Impfentscheidung, von der Medizinischen Sektion am Goetheanum erhalten wir Informationen. Tatsächlich lese ich das alles. Es gibt da wenig Unklarheiten.

Ein Thema allerdings ist, dass es ja auch Personen betrifft, die nicht im Kindergarten angestellt sind, sondern ehrenamtlich mitarbeiten. Da gibt es noch viele Unklarheiten: Wie ist es mit der Impfpflicht bei Hospitationen von Schüler*innen, Ehrenamtlichen – bis hin zu Zulieferern von Essen und Postbot*innen? Das wird auf Landesebene dann voraussichtlich wiederum höchst unterschiedlich umgesetzt.

Wie geht es Ihnen mit der Mehrfachrolle? Als Mutter haben Sie vielleicht eine andere Haltung – ist das ein Konflikt für Sie?

Für mich ist das kein Konflikt, da ich schon immer für eine freie Impfentscheidung gestanden habe, das vertrete ich auch hier nach außen, ohne von der Pflicht abzurücken. In meiner Familie trifft es meine beiden jüngsten Kinder, die in diesem Jahr eingeschult werden. Es gibt die Möglichkeit, den Einfachimpfstoff aus der Schweiz zu beziehen, man braucht dann jedoch hier einen Arzt, der bereit ist, den Impfstoff zu verabreichen, weil es hier dokumentiert werden muss. Zudem ist dieser Impfstoff in Deutschland nicht zugelassen, es besteht also die Gefahr, dass hiermit geimpft wurde und es dennoch nicht anerkannt wird.

Wie wäre denn das Szenario, wenn man die Kinder ungeimpft einschulen lässt?

Grundsätzlich steht die Schulpflicht über der Impfpflicht. Im Zweifel wird man dann mit einem Strafgeld belegt, bekommt Besuch vom Amt und kann dann bei Weigerung auch mit einem höheren Bußgeld belegt werden. Natürlich fängt man an, sich zu fragen, was dann passiert: eine Zwangsimpfung? Diese Frage wird auf der Internetseite des Gesundheitsministeriums negativ beantwortet, gleichzeitig hört man aber, dass so etwas schon vorgekommen ist, wenn auch nicht im Zuge des Masernschutzgesetzes, aber bei Hepatitiserkrankungen: dass infizierte Eltern ihr Kind nicht impfen lassen wollten und dann mit Eilverfahren die Impfung durchgesetzt wurde.

Und in der Kita? Bis zum 31. Juli 2021 müssen die Bescheinigungen auch von den Kindern und Kolleg*innen vorliegen, die vor dem 1. März 2020 bereits die Kinder besucht haben oder angestellt waren. Wenn kein ausreichender Schutz nachgewiesen werden kann, dann müssen Sie auf irgendeine Art reagieren. Wie?

Ich muss es melden und das Kind darf ab diesem Tag die Kita nicht mehr besuchen. Wenn die Eltern morgens mit dem Kind hier stehen, dann darf ich sie nicht reinlassen. Genauso ist es mit den Mitarbeiter*innen. Das ist unvorstellbar. Da ist schon die Hoffnung da, dass die Verfassungsklage erfolgreich ist und daran etwas verändert werden kann. Allerdings dauert das vermutlich länger als bis nächsten Sommer.

Und wie wird Waldorf in ihrem Umfeld in Bezug auf das Thema wahrgenommen? Das Klischeebild ist die „Masernparty“, die differenzierte Stellungnahme der Ärzt*innen für eine freie Impfentscheidung kennt man vermutlich eher weniger.

In der Öffentlichkeit steht Waldorf natürlich im Fokus. Ich erlebe Menschen, die mit Waldorfpädagogik wenig in Berührung waren, möglicherweise aber das Impfen kritisch sehen und nun hoffen, sie könnten bei uns ein ungeimpftes Kind unterbringen.

Ich rechne damit, dass wir vonseiten der Gesundheitsbehörde bald überprüft werden, denn es wird natürlich von Amtsseite sehr genau auf Waldorfeinrichtungen geschaut, da die Durchimpfungsrate in Waldorfkindergärten niedriger ist als anderswo.

Wie präsent war das Thema Masern früher?

Wir hatten noch nie einen Masernfall in der Einrichtung, in den 13 Jahren, die ich hier bin, nicht, und wir hatten immer auch gänzlich ungeimpfte Kinder.

Das Interview mit Viola Sattelkau ist in der Mai-Ausgabe 2020 von info3 zu lesen. Und einen Überblick über unsere Abos finden Sie hier.

Über den Autor / die Autorin

Silke Kirch

Dr. Silke Kirch ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, Lebens- und Sozialkünstlerin und lebt in Frankfurt am Main.

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