Corona: Vertrauen trotz Erschütterung

Da waren wir also: Home School plus Home Office plus Home Uni.

Meine Nachbarin mit drei schulpflichtigen Kindern in der Pubertät und Vollzeitjob im Home Office engagierte ihre von verlängerten Semesterferien betroffene Nichte, über Skype das ein oder andere Kind stundenweise zu unterrichten, um nicht von den vielen Aufgaben gevierteilt zu werden. Viele Student*innen wurden von einer Langeweile erwischt, die sie noch nie kennengelernt hatten, saßen plötzlich vereinzelt in leergefegten WGs, weil die Mitbewohner*innen sich dafür entschieden hatten, zu den jeweiligen Partnern zu ziehen oder für ein Weilchen zurück zu den Eltern. Auf Elternseite Achterbahngefühle: Am wohlsten fühlt man sich, wenn all die Liebsten beieinander sind, also hier: zu Hause! Aber ist das gerade wirklich gut? Wieviel Isolation, wie viel Risiko ist zuträglich? Die klassische Kleinfamilie weiß in etwa, wo zu Hause ist und welche Tür man zumachen muss, um die Infektionsketten zu minimieren. Aber was machen denn getrennte Eltern? Kinder müssen pendeln dürfen, sie brauchen Papa und Mama. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass das Umgangsrecht aufgrund des Pandemieschutzes nicht grundlos angefochten werden darf. Aber kann man die Kinder für den Wochenendbesuch beim anderen Elternteil noch Bus fahren lassen oder Bahn – und wenn nicht, woher nimmt man die Zeit, sie hin und her zu fahren – vorausgesetzt man hat ein Auto. Welches Risiko gehen wir ein und welches nicht? Noch komplizierter wird es in Patchworkfamilien – seine Kinder und ihre Kinder und die dazugehörigen Mamas und Papas, die ja wiederum auch neue Familien gegründet haben können, inklusive Kindern aus früheren Beziehungen. Und so weiter. Wer darf mit wem Umgang haben? Zu Hause ist, wo man die Viren miteinander teilt – in Patchworkfamilien müssen die Grenzen ganz klar ausgehandelt werden – aber wie macht man das, wo sind die Grenzen und wie funktioniert die Abwägung zwischen Kindeswohl und Infektionsrisiko, zwischen Umgangsrecht und Infektionskettenminimierung, zwischen psychischer und körperlicher Gesundheit? Das Leben ist kompliziert. In welchen Zusammenhängen wir auch leben: Wir müssen darüber reden, welches Risiko wir in Bezug auf Gefahren wie den Coronavirus miteinander eingehen wollen. Alle müssen darüber reden. Das ist das Gute. Wie kommen wir miteinander in Kontakt, in welchem Rahmen bewegen wir uns, was können wir verantworten, und wann wird sofort die Reißleine gezogen? Wir brauchen ein neues Vertrauen, mitunter gerade da, wo es am tiefsten erschüttert wurde. Ganz gleich aber, wie wir miteinander verbunden sind: Wir müssen dafür Verantwortung übernehmen, dass jeder Kontakt das Risiko birgt, einander zu gefährden. Jeder. Wir können dieses Risiko nicht vollkommen ausschließen und das wird lange so bleiben. Das Abwägen von Risiken muss Teil unseres Vertrauens ineinander werden, sonst schleicht es sich als Misstrauen in unsere Beziehungen ein. Auch diese Gefahr ist nicht leicht zu erkennen und muss trotzdem gut im Blick behalten werden.

Über den Autor / die Autorin

Silke Kirch

Dr. Silke Kirch ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, Lebens- und Sozialkünstlerin und lebt in Frankfurt am Main.