Anthroposophische Ernährungsmedizin

Foto: Raul Escobar/Unsplash

Seit fast 120 Jahren ist die Anthroposophie in verschiedenen Lebensbereichen erfolgreich. Trotz ihrer gesundheitlichen Relevanz wurde die anthroposophische Ernährung bisher wenig beachtet. Zwei neue Veröffentlichungen könnten dies ändern.

Eine meiner ersten Begegnungen mit der Anthroposophischen Medizin erfolgte in den frühen 1980er Jahren. Damals wurde ich als junger Medizinstudent zu einer Ärztefortbildung eingeladen, die in einem Kongresszentrum stattfand, das für sein reichhaltiges Buffet bekannt und vor allem bei Studierenden beliebt war. Ein bedeutender anthroposophischer Arzt aus Südwestdeutschland sprach souverän über ein hochrelevantes Thema: die Leber. Seine lebendigen Darstellungen widmeten sich ausführlich den Bausteinen einer lebergesunden Ernährung. Er betonte die Wichtigkeit von Faktoren wie Fettreduktion, den Verzicht auf übermäßigen Fleischkonsum, Alkohol und Süßigkeiten. Es wurde darauf hingewiesen, nicht zu spät zu essen und keinesfalls zu deftig am Abend. Die Devise sei, ein bisschen asketisch zu leben und nichts zu übertreiben. Dem Publikum lief das Wasser im Mund zusammen, doch der Vortrag zog sich und es war schon fast 22 Uhr. Zudem hörte man seit einiger Zeit das Klappern des Personals im Vestibül mit Geschirr und Topfdeckeln. Kaum hatte der heftige, aber kurze Applaus geendet, strömten alle dem langerwarteten kulinarischen Höhepunkt entgegen. Am Buffet floss reichlich Bier und Wein, und es wurden typisch fränkische Gerichte wie Leberkäse, Schäufele, Bratwürste, Kartoffelsalat sowie ein gehaltvoller Nachtisch serviert. Auch der Vortragende griff beherzt zu und äußerte sich anerkennend über die deftige fränkische Kost.

Gute Vorbilder

Dieser Kontrast zwischen ambitionierten Ansätzen und mangelnder praktischer Verwirklichung hat bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich stieß aber auch auf Vorbilder, wo die Umsetzung besser gelungen war: In anthroposophischen Krankenhäusern, in einem der wenigen anthroposophischen Restaurants oder in den Praxen anthroposophischer Kinderärzte, wo bei der Behandlung von Neurodermitis und Allergien die ganzheitliche Ernährungsberatung schon immer von enormer Bedeutung war. Ich traf den Arzt Udo Renzenbrink (1913–1994), der nicht nur großen Wert auf einen gesunden Lebensstil legte. Darüber hinaus war es ihm wichtig, eine Verbindung herzustellen zwischen dem auf die Gesundung der Erde ausgerichteten biologisch-dynamischem Anbau und der gezielten Verwendung dieser Lebensmittel zur Förderung der Gesundheit der Menschen. Von Renzenbrink stammt auch das Konzept, sieben Getreidesorten abwechslungsreich und gesund in die Ernährung einzubeziehen (siehe sein Buch Die sieben Getreide, Dornach 1981).

Renzenbrink und andere Ernährungsaktivisten haben immer wieder auf drei Punkte aufmerksam gemacht, welche die Essenz der anthroposophischen Ernährungslehre darstellen und bis heute nicht an Gültigkeit verloren haben: Erstens kommt es nicht nur auf die stoffliche Zusammensetzung der Nahrung an, sondern auch auf die lebendigen Kräfte, die sie in sich trägt. Zweitens beeinflusst die Art und Weise, wie Lebensmittel angebaut und verarbeitet werden, diese Kräfte maßgeblich. Deshalb ist die biologisch-dynamischen Anbauweise so wichtig. Drittens spielen die Essgewohnheiten und die Art, wie wir unsere Nahrung wahrnehmen, eine entscheidende Rolle für deren Wirkung auf Körper und Seele. Es geht nicht nur um Sättigung, sondern auch um die Aufnahme von Lebenskräften, die uns zugleich nähren, gesundheitlich stärken sowie auch seelisch-geistig unterstützen können. Als vierten Grundsatz möchte ich hinzufügen: Anthroposophische Ernährungskunde ist immer individuell und niemals dogmatisch.

Megatrend Ernährung

Ernährung ist mittlerweile ein globaler Megatrend geworden. Besonders Ernährungsweisen aus spirituellen und ganzheitlichen Medizinsystemen wie Ayurveda und Traditioneller Chinesischer Medizin erfreuen sich weltweit großer Beliebtheit und wecken zunehmend Interesse an der Verbindung zwischen Ernährung, Gesundheit und spiritueller Entwicklung. Zusätzlich gewinnen spezifische Ernährungsweisen wie vegetarische und vegane Ernährung sowie Intervallfasten immer mehr Anhänger, auch in wissenschaftlichen Kreisen, was einen schrittweisen Einzug in die Welt der Schulmedizin bedeutet. Im Vergleich zu dieser breiten Entwicklung wirken die anthroposophischen Ernährungskonzepte und ihre Verbreitung auf den ersten Blick eher bescheiden.

Nun sind jedoch kürzlich gleich zwei bedeutende Fachbücher zum Thema Ernährung erschienen. Das eine davon ist herausgegeben von der Ernährungswissenschaftlerin Petra Kühne unter Mitwirkung des Hausarztes Reinhard Kindt und in Zusammenarbeit mit vielen weiteren Ärzten und Fachleuten entstanden. Es trägt den umfangreichen Titel Ernährung – Grundlagen und integrative Konzepte einer anthroposophischen Ernährungsmedizin. Das andere Buch mit dem Titel Ernährung zur Tumorprophylaxe und Therapiebegleitung hat der Veterinärmediziner und Heilpraktiker Henning Schramm verfasst.

Petra Kühnes Buch ist im angesehenen anthroposophisch-medizinischen Fachverlag Salumed erschienen. Es enthält geballtes und umfassendes Ernährungswissen, wie man es in diesem Umfang von rund 700 Seiten sonst nirgendwo findet. Da steckt unglaublich viel Arbeit eines ganzen Top-Teams drin. Der erste Teil widmet sich den anthroposophischen Grundlagen der Ernährung und stellt auch ausführlich das zugrundeliegende Menschenbild dar. Im zweiten Teil werden unterschiedliche Diät- und Ernährungsformen vorgestellt, die eine ganze Bandbreite von Optionen abdecken – angefangen beim Fasten über die mediterrane Ernährung bis hin zu politischen Konzepten wie Planetary Health. Hierbei kommen in erster Linie allgemeine Präventionsmöglichkeiten, aber auch der spezifische Nutzen und die Eignung bei konkreten Diagnosen zur Sprache. Im dritten Teil schließlich geht es um die Besonderheiten der Ernährung in verschiedenen Lebensphasen vom Säuglings- bis zum Greisenalter. Ein besonderer Schwerpunkt liegt bei der detaillierten Darstellung von unterschiedlichen, vorwiegend chronischen Krankheitsbildern und der Unterstützung durch spezifische Ernährungsweisen. Dabei wird die Rolle der Anthroposophie insbesondere im Verständnis der jeweiligen Erkrankungen deutlich. Einige Abschnitte, zum Beispiel über kardiovaskuläre Erkrankungen von Uwe Schulze sind medizinisch tiefgründig, wissenschaftsorientiert und anspruchsvoll. Andere Darstellungen, etwa zu Lebensmitteln und deren Verarbeitung oder zum Thema Abnehmen in einer speziellen „Gewichtsklasse“ sind ernährungspraxisbezogener und leichter verständlich gehalten.

Krebs und Ernährung

Neue Perspektiven für von Krebs Betroffene werden in dem jüngsten Buch von Henning Schramm aufgezeigt. Ihm sind schon einige grundlegende Bücher zu Themen der Anthroposophischen Medizin zu verdanken. Sein neues Werk Ernährung zur Tumorprophylaxe und Therapiebegleitung widmet sich voll und ganz der ernährungsmedizinischen Begleitung von Krebserkrankungen. Schramm legt besonderen Wert darauf, seine Empfehlungen auf Studienresultate zu stützen.

Besonders hilfreich ist die ausführliche Analyse einzelner Lebensmittel, Gewürze und anderer Komponenten hinsichtlich ihrer fördernden oder hemmenden Wirkung auf Krebs. Hier wird bereits deutlich, dass es nicht „die“ Anti-Krebsernährung gibt, sondern die optimale Ernährung individuell angepasst werden muss, um den spezifischen Gegebenheiten eines jeden Betroffenen gerecht zu werden. Ein zentraler Fokus des Buches liegt daher auf maßgeschneiderten Ansätzen zur Ernährungstherapie und -prophylaxe, die je nach Tumorart und Lokalisation individuell gestaltet werden. Das wird besonders am Beispiel der verschiedenen Typen des Mammakarzinoms gezeigt. Schramms differenzierte Vorgehensweise weist auf neue Möglichkeiten der Krebsprävention und bietet eine bedeutende Informationsquelle für alle, die bereits betroffen sind oder krebskranke Menschen in ihrem Umfeld unterstützen möchten. Viele der Vorschläge, die auf Studien und weniger auf Eigenerfahrungen oder individueller Beratungspraxis basieren, müssen sich im Einzelfall erst noch bewähren. Aber es ist gut, einen sicheren Ausgangspunkt zu haben.

Beide Bücher sind sowohl für Fachleute als auch für kompetente Laien sehr empfehlenswert. Gemeinsam zeigen beide Werke eindrucksvoll die Möglichkeiten auf, die sich eröffnen, wenn man sich aus anthroposophischer Perspektive dem Thema Ernährung widmet. ///

Ein leicht gekürzter Text aus der Ausgabe 10/2023 der Zeitschrift info3.
Hier geht’s zum kostenlosen Probeheft!

Dr. Petra Kühne (Hrsg.): Ernährung. Grundlagen und integrative Konzepte einer anthroposophischen Ernährungsmedizin.Salumed-Verlag, 698 Seiten, € 98.

Henning Schramm: Ernährung zur Tumorprophylaxe und Therapiebegleitung. Urban&Fischer-Verlag, 240 Seiten, € 43. 

Das Buch von Petra Kühne ist auch im Info3-Shop erhältlich, für Abonnent:innen der Zeitschrift Info3 in Deutschland versandkostenfrei.

Über den Autor / die Autorin

Frank Meyer

Dr. med. Frank Meyer ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Akupunktur. Niedergelassen als Anthroposophischer Hausarzt in Nürnberg. Seminar- und Vortragstätigkeiten, Bücher und Artikel in Fach- und Publikumszeitschriften zu den Schwerpunkten Selbstregulation, Integrative Medizin und Naturheilverfahren.

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