Wenn der Vater nicht der Vater ist

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Wie fühlt es sich an zu erfahren, dass der Mensch, den man sein Leben lang für den Vater hielt, gar nicht der leibliche Vater ist? Immo Lünzer, der heute 69 Jahre alt ist, war wohl der erste Mann in Deutschland, der sich als „Kuckuckskind“ geoutet hat. Damals – 1996 – gab es den Begriff noch gar nicht. Inzwischen hat Lünzer Selbsthilfegruppen für Menschen initiiert, die wie er durch diese Lebenslüge erschüttert wurden.

Herr Lünzer, erinnern Sie sich noch an Ihre Gefühle, als Sie erfahren haben, dass Ihr Vater gar nicht ihr leiblicher Vater ist? 

Diese Entdeckung machte ich mit 42 Jahren. Mein Verhältnis zu Vati, bei dem ich nach der Scheidung meiner Eltern seit meinem achten Lebensjahr aufgewachsen bin, war immer schwierig gewesen. Ich war erlöst, als es endlich möglich war, darüber zu sprechen. So lange schon hatte ich gespürt, dass etwas nicht stimmt. Neben der Erleichterung war ich natürlich tief erschüttert. Eine Welt ist zusammengebrochen. Und gleichzeitig ist eine neue Welt aufgegangen. Es war eine krisenhafte Situation, in der mir meine eigene Familie, meine Frau mit unseren zwei Kindern, Stabilität gegeben hat. Plötzlich wusste ich: Alles war auf einer Lebenslüge aufgebaut gewesen. Das war eine biographische Erschütterung. Trotzdem war es so wichtig, dass dieses Unrecht ans Licht gebracht wurde. Tausend Fragen wurden beantwortet und tausend neue Fragen sind aufgetaucht. Ich fand eine Erklärung für das angespannte Verhältnis mit Vati. Und ich begann die Vatersuche. 

Hat sich Ihre Beziehung zum juristischen Vater, zu Vati, damals verändert? 

Durch die Aufdeckung wurde es kurzfristig besser. Aber ich hatte gehofft, dass sie sich fundamental verändert. Das hat sich nicht erfüllt.

Sie konnten schließlich Ihrem leiblichen Vater begegnen. Ihre Mutter hat sie zu diesem Treffen begleitet. 

Nachdem meine Mutter sich lange gesperrt hatte, ermöglichte sie endlich doch die Begegnung. Mein leiblicher Vater war immer interessiert an mir gewesen, hatte Berichte über meine Arbeit gesammelt. Im Gespräch war dieses Interesse an mir intensiv spürbar. Das tat mir so gut, hatte ich es doch bei Vati vermisst. Auch an seinen Enkeln war mein Vater wirklich interessiert. Das hatte mir und uns allen so gefehlt. Wir hatten nicht mehr viel Zeit miteinander, weil mein Vater bald nach unserem Erstkontakt starb. Das war ein harter Schlag, zumal Mutti schnell danach ebenfalls verstorben ist. Seinen Sohn, meinen Halb-Bruder, habe ich schließlich über die Plattform Wer kennt wen? gefunden, Facebook gab es damals ja noch nicht. Er wusste von mir und hatte mich auch gesucht. Wir sind froh, dass wir eine Beziehung aufbauen konnten. Er ist der Lebenskünstler, der ich gerne etwas mehr gewesen wäre. Meine Trauer um das Verpasste hielt sich in etwa die Waage mit der Entdeckung des Neuen. Mein Blick in meine eigene Familie veränderte sich dadurch und entscheidend war, welche Kraft die Liebe, die Erziehung mit Liebe und zur Liebe, entfalten konnte. 

Wie waren Sie damals mit Ihrer Mutter im Austausch? 

Das war schwierig. Sie hat so lange an der Lüge festgehalten, hat Vati und auch meine Omi in dieses Geflecht mit reingezogen, die beide von meinem leiblichen Vater wussten. Kurz vor ihrem Tod hat sie mich gebeten: „Ich konnte nicht anders, vergib mir.“ Für mich war ganz entscheidend, dass sie deutlich formuliert hat, ich sei aus Liebe entstanden. Inzwischen habe ich mit einigen anderen Kuckucksmüttern gesprochen und dabei entdeckt, dass sie lieber schweigen wollen. 

Wie gehen Sie selbst mit dem Thema Lüge um? 

Es klingt fast schon paradox, aber meine Mutter hatte mich sehr strikt zur Wahrheit erzogen. Das hat mich geprägt. Ich war immer ein Kämpfer für die Wahrheit. Ich stehe auf, wenn ich eine Lüge erlebe und früher sind mir dabei auch mal die Gäule durchgegangen. Da dominierte der Zorn. Heute sehe ich eher nach der Situation und nehme mir die Wahl, zu entscheiden, wie ich eigentlich reagieren möchte. Das ist nicht mehr reflexartig. 

Was bewegt Menschen zu so einem Verhalten, zu einer solchen Lüge?

Dazu müsste man eigentlich ein eigenes Interview machen (lacht). Ich sehe einen karmischen Hintergrund. Menschen stürzen sich in die Verliebtheit, weil man sich kennt aus einem früheren Leben. Hinzu kommt so etwas wie der Vermehrungsimpuls. Ist man frei genug zu entscheiden, verhüte ich? Gesellschaftlich ist es immer noch ein Tabu, diese Verliebtheit und die Liebe zum ursprünglichen Partner gleichzeitig zu leben. Dadurch fühlen sich Mütter in die Lüge getrieben, weil es nicht gesellschaftskonform war oder immer noch nicht ist. Es ist vielleicht an der Zeit, darüber offener ins Gespräch zu kommen. Aber das Problem fängt ja danach an, wenn das Kind nicht über die Vaterschaft – und heute auch über die Mutterschaft – aufgeklärt wird.

Wie finden Sie Ihren Frieden mit diesem herausfordernden Schicksal? 

Für mein Leben war es entscheidend, dass ich alles drangesetzt habe, meinem Gefühl nachgegangen bin und entsprechend hartnäckig gefragt habe. Mit meinem Vati bin ich sehr versöhnt und dankbar, dass er es geschafft hat, sich mir zu öffnen. Dadurch konnte ich endlich auch spüren, dass er mir in all den Jahren Liebe gezeigt hatte. Mit Vater war die Versöhnung einfach. Er hatte ja Interesse an mir, meine Mutter hatte den Kontakt verhindert. 

Das klingt ja relativ reibungslos. Ist Ihnen Verzeihen so schnell gelungen? 

Natürlich nicht. Es hat Jahre gebraucht, um die Geschichte zu integrieren. Jahre, um verzeihen zu können. Es war schwer, diese große Lüge und das jahrzehntelange Verhalten zu transformieren. Das war ein langsamer Prozess, begleitet von klassischer Psychotherapie, einem anthroposophischen Therapeuten, Familienaufstellungen, Rückführungen und schließlich bis zu meiner Ausbildung zum Karma-Coach. Entscheidend ist, vom Schuldzuweisen wegzukommen.

Durch die Transformation gelingt es mir, auf der Seelenebene mit beiden Vätern verbunden zu sein. Das ist wertvoll. Ich spüre sie in der Seelenarbeit in alltäglichen Momenten, in meinen Träumen und immer ist da ein intensives Gefühl der Verbundenheit und der Liebe zu beiden, insbesondere zu Vati. Ich kann spüren, dass er mich immer geliebt hat. Er hatte ja vom Geheimnis meiner Zeugung erfahren, als ich ein Kleinkind war und diesen Vater sicherlich in mir immer wieder gesehen. Umso bewundernswerter, wie er es geschafft hat, mich als seinen Sohn zu akzeptieren. 

Gelingt das mit Ihrer toten Mutter auch so gut? 

Ich bin im Reinen mit ihr, aber mit ihr spüre ich nicht diese direkte Seelenverbindung wie mit den Vätern.

Nicht zuletzt Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass Kuckuckskinder inzwischen ein Thema sind. 

Mir geht es generell um das Thema, weniger um mich. Es gibt so viele Betroffene. Die Zahl, dass jedes zehnte Kind ein Kuckuckskind ist, war mal in der Welt. Ich denke eher, vielleicht ist jeder Zehnte mit dem Kuckucksfaktor verbunden. Eine solche Biographie wirkt ja nicht nur auf einen, sondern auf die ganze Familie, über Generationen hinweg. Es ist bedeutsam, darüber zu sprechen. Inzwischen gewinnt die Problematik ja noch eine größere Dimension, wenn ich an Spenderkinder oder Adoptivkinder denke. Es ist ein Grundrecht aller Menschen, zu wissen, wer ihre Erzeuger sind. Da geht es um die Identität der Menschen. Dafür setze ich mich in unseren Facebook-Gruppen ein und plane mit anderen die Gründung eines Vereins für Kuckuckskinder und Familien. Wir müssen vertrauensvoll im geschützten Raum darüber sprechen und die gesellschaftliche Diskussion dazu anregen. Wie kann es die Sicherheit über die eigene Herkunft geben? Das können wir nicht nur DNA-Detektiven oder Gen-Datenbanken überlassen. 

Immo Lünzer war als Agrar-Ökologe lange in der Bio- und Demeter-Gemeinschaft aktiv. Inzwischen arbeitet er als Karma-Coach und ist Autor. Sein Buch Liebe ändert alles – Karma & Co. Edition Winterwork, Borsdorf 2014‎, 212 Seiten ist antiquarisch noch erhältlich.

Außerdem zum Thema: Christine Müller: Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von „Kuckuckskindern“ und „Spenderkindern“, Psychosozial-Verlag 2020, € 44,90

Ein Text aus der Ausgabe Juni 2023 der Zeitschrift info3

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Über den Autor / die Autorin

Renée Herrnkind