Zwang im Namen der Wissenschaft?

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In der Coronakrise droht der Verweis auf die Wissenschaft zum sozialen Druckmittel zu werden. Ein Plädoyer gegen die Instrumentalisierung von Wissenschaft.

Der Kabarettist Dieter Nuhr hat kürzlich in einem Gastbeitrag für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gesagt, Wissen bedeute nicht, dass man sich zu hundert Prozent sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. In einem Youtube-Video hatte er außerdem einige ironische Rückfragen wegen widersprüchlicher Angaben des Robert Koch-Instituts in der Corona-Berichterstattung untergebracht. Bald darauf kursierte öffentlich eine neue Ächtungsvokabel gegen den Komiker: Nuhr sei ein „Wissenschaftsleugner“, hieß es. Schwupps war der beliebte Entertainer in eine Reihe mit Extremisten und Reichsbürgern gestellt.

Mir geht es hier nicht um Dieter Nuhr, dessen Art von Humor ich persönlich nicht sehr schätze, sondern um den gegen ihn in Stellung gebrachten Kampfbegriff. Dessen vernichtende Kraft empfängt er analog der Bezeichnung für verwirrte Zeitgenossen, die den Massenmord an den europäischen Juden abstreiten („Holocaustleugner“). Das Beispiel Nuhrs, dem weitere zur Seite gestellt werden könnten, ist ein bedenkliches Anzeichen dafür, wie schnell in der Corona-Krise das Bekenntnis zu dem, was als wissenschaftliche Lehrmeinung gilt, zu einer Frage von Leben und Tod, von gesellschaftlichem Ruf oder Ruin werden kann.

Wer das offiziell geltende Hochrisiko des Corona-Virus bezweifelt und die daraus abgeleiteten drastischen Maßnahmen hinterfragt, gilt als gefährlicher Querulant, der mit der Gesundheit seiner Mitmenschen spielt und deshalb geächtet gehört. Das wäre für Dieter Nuhr nicht mehr komisch. Kein Wunder, dass er sich gedrängt fühlte, rasch ein Bekenntnis nachzuschieben: Er sei missverstanden worden und selbst geradezu ein Fan von Wissenschaft, erklärte er gegenüber der Welt, ja, Wissenschaft sei für ihn die „einzige seriöse Möglichkeit, Erkenntnis zu generieren“.

Dieser Satz gab mir indessen noch mehr zu denken als das gegen ihn verhängte Verdikt. Was meint der Nuhr – Wissenschaft soll die „einzig seriöse Form“ der Erkenntnis sein? Mir scheint, hier wird Wissenschaft mit einem Anspruch überladen, den ein aufgeklärtes Wissenschaftsverständnis gar nicht erhebt. Wissenschaft meint ganz allgemein ein systematisch-methodisches Vorgehen, um die Phänomene der Welt aufgrund von Beobachtung und Denken zu erschließen.

Wer andere als „Wissenschaftsleugner“ bezeichnet, hat aber selbst oft ein viel engeres Verständnis von Wissenschaft. Er oder sie meint dann definieren zu können, dass nur materielle Vorgänge überhaupt erforschbar und nur quantifizierbare Methoden mit wissenschaftlichem Vorgehen gleichzusetzen seien. Das aber bedeutet, die Reichweite und Tiefe von Wissenschaft a priori durch ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit einzugrenzen, wie beispielsweise der Philosoph Markus Gabriel kritisiert.

Ursprünglich emanzipatorisch

Dabei war die moderne Wissenschaft in ihrer ganzen Entstehungsweise ein universeller, emanzipatorischer Impuls, der sich gegen die Macht religiöser und staatlicher Institutionen wandte. Ich bewundere den Mut, mit dem ein Galilei einst die Grundlagen des damaligen Weltbildes ins Wanken brachte, und ich bin fasziniert von der Art, wie etwa die Quantenphysik heute unser Verständnis von Wirklichkeit revolutioniert oder die Klimawissenschaft komplexe atmosphärische Prozesse erforscht.

Ja, Wissenschaft ist ein zentraler Innovationsmotor. Eine weitere, unabdingbare Eigenschaft von Wissenschaft: Sie ist ein Prozess, an dem viele beteiligt sind, zu ihr gehören essenziell Austausch und in der Regel auch kontroverse Diskussionen in der „Scientific community“. Wenn entgegen dieser Merkmale in unserer Gegenwart irreführend und verkürzend von „der“ Wissenschaft die Rede ist, dann droht ein ursprünglich befreiender und pluraler Faktor der Moderne zu einer autoritären und kollektivistischen Macht umgedeutet zu werden.

Unverständlich ist dieses Bedürfnis nicht: Wissenschaft soll in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung als sicherer Anker dienen. Auch in meinem eigenen Umfeld, besonders auf Facebook, war ich verblüfft über den teilweise geradezu euphorisch aufbrechenden Szientismus in der Corona-Krise, der kritiklos die vom Robert Koch Institut verbreiteten Sichtweisen begrüßte. Viele Menschen schwören derzeit auf „die“ Wissenschaft als homogene Quelle eindeutiger Handlungsempfehlungen wie früher auf die heilige Dreieinigkeit.

Auch die Grünen präsentieren sich seit Neuestem als Partei der Wissenschaft, deren Ergebnisse es – siehe Corona-Impfung – wenn es sein muss zwangsweise umzusetzen gilt, wie Parteichef Habeck in einem Interview sagte. Die Grüne Jugend will die Politik in Zukunft grundsätzlich nur noch an „der“ Wissenschaft ausrichten. Wissenschaft als Begründungsquelle droht hier zum Glaubensersatz zu werden, im Sinne einer Letzt-Instanz, über die hinaus keine Wahrheitsansprüche bestehen können.

Hinter dieser Wissenschaftsgläubigkeit wirkt der Irrtum, die immer aufreibende und oft kontroverse Suche nach Wahrheit und Werten ein für alle Mal durch eindeutige Verordnungen beenden zu können, die es dann natürlich auch mit Sanktionen umzusetzen gilt: „Die“ Wissenschaft soll bestimmen, wie wir zu leben haben, wie unser Gesundheitssystem aussehen soll, wie wir uns ernähren und nach welchen Prinzipien unsere Schulen funktionieren.

Alles, was nicht oder nicht ausreichend mit Studien belegbar ist, was gar nach Glaube oder Esoterik aussieht, wird als gefährlich und demokratiegefährdend abgelehnt. Dieser Drang zur (Schein-)Homogenität erinnert eher an den früheren Staatssozialismus denn an den freien Wettstreit der besten, vielleicht manchmal auch unbequemen Ideen, der Wissenschaft ausmachen sollte.

Ein weiteres Beispiel: SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisierte jüngst in einem seiner zahlreichen Twitter-Tweets, dass in Apotheken immer noch homöopathische Mittel verkauft würden. Dies sei in einer Zeit, wo „die“ Wissenschaft für politische Entscheidungen immer wichtiger werde, nicht vertretbar. Eine solche Position ist aber nicht mehr aufklärerisch, sondern kippt – was mir für weite Teile der Homöopathie-Kritik zu gelten scheint – schlicht in Bevormundung ab.

Gerhard Kienle, der Mitgründer des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, setzte sich vor vielen Jahren erfolgreich dafür ein, dass Komplementärmedizin im Sinne eines Methodenpluralismus und im Interesse der Wahlfreiheit aller Patient*innen im modernen Arzneimittelrecht verankert wurde. Würde er heute als „Wissenschaftsleugner“ mundtot gemacht werden?

Wissenschaft im Dienst der Relativierung

Dabei ist Wissenschaft trotz der angestrebten Objektivität immer auch relativ und vor allem vorläufig, worauf nicht zuletzt der Philosoph Karl Popper verwiesen hat. Sie bleibt auch in ihrer Gesamtheit fast immer uneindeutig. Dazu ein Beispiel. Bei Recherchen über Risiken des Pflanzengifts Glyphosat stieß ich auf ein Video der Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim, einer einflussreichen Youtuberin und preisgekrönten Wissenschaftsjournalistin, die auch beim öffentlich-rechtlichen TV unter Vertrag steht. Sie inszeniert Wissenschaft witzig, schlagkräftig und in flotten Schnitten, was besonders bei jungen Leuten gut ankommt. In einem Überblick zur Studienlage will sie in ihrem Video zeigen, dass die Forschung sowohl Studien für wie gegen die gesundheitliche Gefährlichkeit von Glyphosat hervorgebracht hat – eine wissenschaftlich eindeutige Empfehlung zu Gesundheitsrisiken von Glyphosat gibt es ihrer Meinung nach nicht.

Ganz am Ende verblüfft sie dann aber mit einer Behauptung: Letzten Endes sei doch jede Form von Landwirtschaft, egal ob man den Boden biologisch bearbeitet oder mit Gift, ein Eingriff in die Natur, und insofern sei es auch egal, ob man Pflanzenschutzmittel einsetze oder nicht. Das aber ist gerade keine wissenschaftliche Aussage mehr, sondern eine persönliche normative Wertung, eine extrem zweifelhafte zudem – scheinbar gedeckt von „der“ Wissenschaft.

Erkenntnis jenseits von Wissenschaft

Wissenschaft kann im besten Sinne immer nur Grundlagen für ein Urteil liefern, aber selbst keine gesellschaftlich relevanten Schlussfolgerungen liefern. Dennoch droht zurzeit der Verweis auf „die“ Wissenschaft zum Ersatz zu werden für die Übernahme politischer und persönlicher Verantwortung, gerade in der Corona-Krise.

Beispielsweise hat der Verweis auf „die“ Wissenschaft gegenwärtig zu der Illusion geführt, es müssten um jeden Preis sämtliche Covid-19-Infektionen bis zu einer Massenimpfung unterdrückt werden. Sie hat zu der Illusion geführt, es ließe sich auf die Dauer vermeiden, zwischen möglichen Maßnahmen, möglichen Risiken und möglichen Schäden abzuwägen – denn diese Abwägung ist keine wissenschaftliche, sondern verlangt eine ethische und politische Auseinandersetzung, wie das unter anderem der Philosoph Julian Nida-Rümelin, die Publizistin Juli Zeh und der Virologe Alexander Kekulé in einem gemeinsamen Aufruf mit dem Titel Raus aus dem Lockdown schon früh betont haben. Hier sind andere Formen der Entscheidungsfindung zuständig, nicht allein quantifizierbare Messdaten oder Statistiken.

Um zu Dieter Nuhr zurückzukommen: Wissenschaft ist eine Form der Erkenntnis, aber nicht jede Erkenntnis ist Wissenschaft. Die Wissenschaft wird mir nie sagen können, warum ich morgens aufstehen soll, warum die Demokratie eine gute Staatsform ist oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber wertschätzend verhalte.

Ich möchte soweit gehen und behaupten, dass gerade die wesentlichen Erkenntnisse in unserem Leben meist ganz anderen Bereichen entspringen als der herkömmlich verstandenen Wissenschaft: Intuitionsfähigkeit und Kreativität, Leben mit der Natur, Kunstsinn, für viele auch Religion und Spiritualität, Verantwortungsgefühl, soziale Netze und vor allem Liebe. Sie alle sind als Quellen der Erkenntnis unverzichtbar für unsere Existenz. Die Formel Wissenschaft = gutes Leben ist dagegen ein Kurzschluss. Ich wehre mich gegen diese Verarmung der Welt. ///

Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe September 2020 der Zeitschrift info3.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.