Das Gespenst des Transhumanismus und die Anthroposophie

Foto: Cash Macanaya/unsplash

Rudolf Steiner hat in der Anthroposophie Perspektiven für die globale Entwicklung gegeben, die oft sehr weit in eine ferne Zukunft reichen. Bei näherer Betrachtung jedoch können sich diese auch jetzt schon als Schlüssel zum Verständnis vieler Trends der Gegenwart erweisen. Das gilt ganz besonders für den Transhumanismus, eine Weltanschauung, die heute unterschwellig praktisch allen großen Entwicklungen zugrunde liegt und dennoch kaum wahrgenommen und noch weniger verstanden wird.

Der Transhumanismus baut, wie auch die Anthroposophie, auf dem Grundgedanken der zielgerichteten Entwicklung auf und möchte die menschliche Evolution weiterführen. Ziel ist es für den Transhumanismus, den Menschen zu verbessern und ihn mit unvorstellbaren neuen Möglichkeiten auszustatten. Gelingen soll dies dadurch, dass die biologischen Limitierungen unseres Körpers aufgehoben und durch geeignete Technologien erweitert werden. Sie sollen uns sowohl neue körperliche als auch intellektuelle Möglichkeiten erschließen. Im Transhumanismus kommt dem technischen Fortschritt somit eine entscheidende und auch neue Rolle zu: Seine Aufgabe besteht nicht länger nur darin, dem Menschen, so wie er ist, zu dienen, sondern jetzt soll er die Menschen selbst optimieren und transformieren. Dies geschieht zunächst durch technische Erweiterungen des Körpers („Human Enhancement“) und läuft nach und nach auf seine komplette Umformung hinaus.

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine wird von einer optimistischen Technikgläubigkeit vorangetrieben, die weder Zweifel noch rote Linien kennt und sich ganz und gar der Machbarkeit verschrieben hat. Der Künstliche-Intelligenz-Forscher und Transhumanist Mark Tegmark, Professor am bedeutenden Massachusetts Institute of Technology (MIT) spricht in diesem Zusammenhang sehr prägnant von „Life 3.0“. Für ihn folgt auf die rein biologische Stufe des Lebens (Life 1.0, das sind Pflanzen und Tiere, die den Programmen ihrer Erbinformation in der DNS folgen) als nächste die kulturelle Stufe (Life 2.0) mit dem Menschen als Gestalter seiner eigenen „Software“ (Sprache, Kultur) und schließlich die technologische Stufe des Lebens (Life 3.0), auf der wir Menschen auch unsere „Hardware“ (unseren Körper) selbst neu entwerfen und gestalten. Eine wesentliche Rolle dabei soll die Künstliche Intelligenz (KI) spielen, indem sie uns dabei unterstützt, schon in den nächsten Jahrzehnten die eigene Evolution zu steuern und dank neuer technischer Möglichkeiten über uns selbst hinauszuwachsen. Der Traum des Transhumanismus ist der Traum von physischer und intellektueller Expansion ohne Grenzen, ermöglicht durch die Allmacht der Technik.

Transhumanistische Technologien

Was von alldem passiert schon heute? Beispielhaft seien hier einige transhumanistische Technologien genannt, an denen aktuell gearbeitet wird. Der Fortschritt der Technologie, sagte einmal der Microsoft-Gründer und Impf-Aktivist Bill Gates, basiere darauf, sie so anzupassen, dass man sie nicht mehr bemerke und sie unbeobachtet Teil des täglichen Lebens wird. Das gilt insbesondere für neue Techniken der genetischen Manipulation und der Nanomedizin. Breit eingeführt wurden sie im Rahmen der Corona-Pandemie, die generell als Katalysator der transhumanistischen Transformation gelten kann. Die Rede ist von den genetischen Vakzinen, jenen viel diskutieren Impfungen. Sie schleusen mittels genmanipulierter Viren oder Nanomolekülen Erbinformationen in die Zellen ein, um unseren Organismus dahingehend zu manipulieren, etwas zu tun, was er normalerweise nicht tut: nämlich artfremde Eiweißmoleküle zu produzieren, in diesem Fall das sogenannte Spike-Protein der Coronaviren. Der Körper wird so ganz im Sinne des Transhumanismus selbst zur Impfstoff-Fabrik. Besonders die mRNA-Impfungen haben für viel Aufsehen gesorgt, nicht nur wegen neuartiger Nebenwirkungen, sondern auch, weil man sich von ihnen auch die Heilung vieler Zivilisationskrankheiten erhofft, von Allergien bis hin zu Demenz, Herzinfarkt und Krebs (so die Spiegel-Titelgeschichte vom 19. 6. 2021 über die allseits gefeierte „Supermedizin“). Es ist absehbar, dass sich die mRNA-Therapie in vielen Bereichen der Medizin etablieren wird, ohne dass man es, im Sinne von Bill Gates, wirklich bemerken wird.

Noch überwiegend in der Entwicklungsphase hingegen befinden sich eine Vielzahl von „intelligenten Prothesen“, auch als Cyberware bezeichnet, welche weit über die Funktionen konventioneller Prothesen hinausgehen und den Organismus um zusätzliche Funktionen erweitern, etwa indem sie mit anderen Prothesen, Computern oder Computer-Netzwerken kommunizieren. Sie bilden die Grundlage für „Cyborgs“ (Mensch-Maschine-Mischwesen). Weitverbreitet und bei Diabetikern beliebt sind unter der Haut implantierte Blutzuckersensoren, von welchen die Werte direkt an das Smartphone übertragen werden. Für Betroffene ist das „Messen ohne Pieks“ eine praktische Sache, die schnell Teil des Alltags wird. Und wenn es sich nicht gerade um eine Firma namens Ultrahuman handelt, die derartige Sensoren und das dazugehörige Programm auch zur Optimierung des Stoffwechsels von Gesunden anbietet, würde kaum jemand auf die Idee kommen, dass ein solches Mensch-Maschine-Interface etwas mit Transhumanismus zu tun hat.

Offensichtlicher ist das schon bei dem Projekt Neuralink von Elon Musk, einer bisher bei Schweinen funktionierenden Gehirn-Computer-Schnittstelle, wo Gehirnaktivität durch mehr als 1000 implantierte Elektroden ausgelesen und vom Computer weiterverarbeitet wird. Das soll einerseits der Behandlung von Erkrankungen dienen. Neuralink könnte aber auch die Übertragung von Informationen oder Musik direkt ins Gehirn ermöglichen, vielleicht auch Telepathie, die Verschmelzung von Künstlicher und menschlicher Intelligenz im Sinne einer „Superintelligenz“ oder gar die von Künstlicher Intelligenz gesteuerte Vernetzung aller Menschen in einer kollektiven „Hirncloud“ als Grundlage eines globalen Bewusstseins.

Genannt sei schließlich noch ein drittes transhumanistisches Projekt, die physische Unsterblichkeit, an der auf unterschiedlichsten Wegen gearbeitet wird: zum Beispiel mittels Genmanipulation oder Hochladen des Bewusstseins in einen Speicher oder durch Einfrieren des Körpers (Kryonik), bis entsprechende Technologien zur Verfügung stehen.

Transhumanismus und Anthroposophie

Auf den ersten Blick erscheinen Transhumanismus und Anthroposophie als unvereinbare Gegensätze, was sie ja mit Blick auf ihre Mittel auch sind: Die Anthroposophie widmet sich dem Geistigen im Menschen, für den Transhumanismus steht die physische Leiblichkeit im Mittelpunkt. Verbindendes zeigt sich jedoch bei näherer Betrachtung: Gemeinsam ist der Anthroposophie und dem Transhumanismus die Sehnsucht danach, über sich selbst hinauszuwachsen, die eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu erweitern und das Schicksal einem höheren Zweck (der Evolution, dem Fortschritt) zu widmen. Nicht zuletzt ist ihnen die Sehnsucht nach Transzendenz gemeinsam. Ihr folgend ließ sich schon Buddha unter dem Boddhi-Baum nieder, wurde Jesus an den Jordan geführt, wurden ein moderner Geist wie Friedrich Nietzsche mit seinem Hang zum Übermenschen und der Menschenfreund Rudolf Steiner inspiriert und beflügelt.

Eine erhellende Parallele von Transhumanismus und Anthroposophie findet sich im anthroposophischen Grundlagenwerk von Rudolf Steiner. Zwischen 1905 und 1910 stellte dieser den Menschen und die Menschheit als integralen Bestandteil eines in fortwährender Entwicklung begriffenen Universums dar. Zum Verständnis seiner sehr detaillierten Darstellungen der gemeinsamen Entwicklung von Kosmos und Mensch führte er eine ganze Reihe von Begriffen ein. Diese sind zum Teil indischen (hinduistischen oder buddhistischen) Ursprungs und bezeichnen verschiedene Wesensglieder des Menschen, die über den physischen Leib hinausgehen. Sie liegen beispielsweise den Lebensvorgängen sowie seelisch-geistigen Vorgängen zugrunde und sind zum Teil auch noch nicht voll entwickelt. Die höchsten unter ihnen sollen erst in Zukunft in Erscheinung treten. Das gilt vor allem für den sogenannten „Geistesmensch“ (in der alt-indischen Philosophie „Atma“ genannt). Der Geistesmensch ist ein rein geistiges Wesensglied, basiert jedoch auf der Verwandlung des physischen Leibes. In einer fernen Zukunft, „in der kein Nerv sich betätigt, kein Blutkügelchen rollt ohne des Menschen bewussten Willen“ (so Rudolf Steiner am 28. Oktober 1906) wird der Geistesmensch, Atma, ausgebildet sein. Doch die Arbeit an der Umwandlung unserer Physis findet schon heute statt. Rudolf Steiner – ein Transhumanist, der die Umformung des Körpers vorantreiben wollte? Nein, denn beim Geistesmenschen wird zugleich der wesentliche Unterschied zum Transhumanismus erkennbar: Was nach Steiner rein geistig bewirkt werden soll, kann der Transhumanismus in Ermangelung einer spirituellen Perspektive nur auf grob materialistische Weise angehen, indem beispielsweise Drähte ins Gehirn eingeführt werden. Mag sein, dass auf diese Weise eines Tages Gelähmte Exoprothesen oder Computer bedienen können; das wäre ein gewaltiger Fortschritt, der allen Betroffenen gegönnt sei und an dem es sich lohnt zu arbeiten! Aber als Zukunftsperspektive für die Menschheit taugt die Verschmelzung von Mensch und Maschine nicht, weil sie eben nur die materielle Erscheinung betrifft und menschliches Wachstum auf ganz anderen Ebenen, nämlich seelisch-geistigen stattfindet.

Wie kann man sich die evolutionäre Verwandlung des physischen Leibes denn im Sinne der Anthroposophie vorstellen? Wir wissen, dass unser Gehirn plastisch und entwicklungsfähig ist – durch seelische Übungen wie Meditation und andere Praktiken werden nicht nur die Gehirnfunktionen beeinflusst, sondern es entwickeln sich auch neue Gehirnstrukturen. Der Geist baut sich so sein Gehirn, und vom Gehirn ist es nur ein kleiner Schritt zur Beeinflussung und zum Umbau des restlichen Organismus, der, wie zum Beispiel bei Atmung und Kreislauf, in ständiger Wechselbeziehung mit dem Gehirn steht. Das geschieht zwar sehr langsam und bedarf regelmäßiger Anstrengung, aber die Früchte bleiben, und sie werden im Gegensatz zu technologischen Erweiterungen des Menschen niemals veralten, weil sie eben geistiger Natur und damit zeitlos sind.

Die Anthroposophie setzt neben die Vorstellung von der Evolution durch natürliche Auslese (Darwinismus) und die Evolutions-Bestrebungen durch Künstliche Intelligenz und Hochtechnologie (Transhumanismus) ein drittes, ebenso menschenfreundliches wie nachhaltig wirksames Konzept: die bewusste Umgestaltung des Leibes durch geistige Weiterentwicklung und spirituelle Praxis. Hier hätte die Anthroposophie zu Beginn des 3. Jahrtausends eine wichtige Aufgabe gehabt, wenn sie es zu der Verbreitung gebracht hätte, die man sich zu Lebzeiten Rudolf Steiners erhoffte. An ihrer Stelle hat seit der Jahrtausendwende nun das materialistische Surrogat seinen kaum noch aufzuhaltenden Siegeszug angetreten: der Transhumanismus, der die Sehnsucht der Menschen nach Transzendenz mit einer technologischen Lösung befriedigen möchte, die heute, ohne dass die Menschen dazu ihre materialistischen und mechanistischen Denkgewohnheiten verlassen, weitgehend unbemerkt unseren Alltag infiltriert.

Vorausschauend und erstaunlich konkret sprach Rudolf Steiner die Situation zu Beginn des 3. Jahrtausends in einem Vortrag vom 9. Oktober 1918 an*, in dem er vor der „ungeheuren Förderung“ warnte, welche die Medizin und ihr verwandte Disziplinen durch den Materialismus erfahren würden, wenn die Menschen bis dahin nicht zur Einsicht in die geistige Natur der Welt gekommen seien. Von „ungeheurem Schaden“ ist unter anderem die Rede, den man aber nützlich nennen werde. Es ist heute genau das eingetreten, was Rudolf Steiner im Sinne einer Gesetzmäßigkeit im oben genannten Vortrag mit den folgenden Worten formulierte: „Wenn … in irgendeinem Zeitalter die Menschen, die wachen sollten, versäumen zu wachen und nicht herausfinden, was wirklich geschehen sollte, dann geschieht überhaupt nichts Wirkliches, sondern das Gespenst der vorhergehenden Epoche geht dann herum.“ Mit einem solchen Gespenst haben wir es hier zu tun – es ist der geistesgeschichtlich längst überholte Materialismus mit seinem mechanistischen Menschenbild, der in Gestalt des Transhumanismus mit progressiver Attitüde und futuristischem Glamour die schlafenden Seelen betört. ///

* Vortrag vom 9.10.1918: Was tut der Engel in unserem Astralleib?, in: Der Tod als Lebenswandlung, GA 182.

Dieser Text erschien in der Ausgabe 9/2022 der Zeitschrift Info3.
Hier kostenloses Probeheft bestellen.

Literaturtipp:

Das Ende des Menschen? Wege durch und aus dem Transhumanismus, Verlag am Goetheanum, Dornach 2020.
Mit Beiträgen von Marica Bodrožić, Ariane Eichenberg, Matthias Girke, Michaela Glöckler, Christiane Haid, Stefan Hasler, Michael Hauskeller, Edwin Hübner, Johannes Kühl, Sibylle Lewitscharoff, Sebastian Lorenz, René Madeleyn, Claus-Peter Röh.

Über den Autor / die Autorin

Frank Meyer

Dr. med. Frank Meyer ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Akupunktur. Niedergelassen als Anthroposophischer Hausarzt in Nürnberg. Seminar- und Vortragstätigkeiten, Bücher und Artikel in Fach- und Publikumszeitschriften zu den Schwerpunkten Selbstregulation, Integrative Medizin und Naturheilverfahren.