Februar 2018 Zeitschrift Info3

Nicolas Dierks: Warum Diogenes in der Tonne lebte

Loslassen, Info3 Februar 2018. Bild: Jean Léon Gérôme, gemeinfrei, Wikimedia Commons
Loslassen, Info3 Februar 2018. Bild: Jean Léon Gérôme, gemeinfrei, Wikimedia Commons

Der Philosoph Nicolas Dierks über Loslassen-Learnings aus der Antike.

Was verbinden Sie als Philosoph spontan mit dem Begriff „Loslassen“?

Der Begriff Loslassen ist in der Tradition der westlichen Philosophie eher ungebräuchlich. Er gehört nicht zu den großen philosophischen Begriffen wie Bewusstsein oder Gerechtigkeit und dergleichen. Gleichwohl ist – in anderen Begriffen ausgedrückt – das Loslassen seit Jahrtausenden ein Thema der westlichen Philosophie.

Wir kennen das Loslassen ja eher aus der östlichen Tradition. Das ist unserem Lifestyle näher: Wir praktizieren Yoga und meditieren, um unseren Alltag vorübergehend hinter uns zu lassen. Das Loslassen, sagten sie, sei aber durchaus auch ein Konzept der westlichen Philosophietradition?

Am Ursprung der europäischen Philosophie – also der griechischen und römischen Antike – ist der Begriff des „Loslassens“ zwar nicht zu finden, aber dennoch ist das Konzept damals wichtig gewesen. Es gab etwa den Ansatz, man müsse, weil das Leben nur Leiden mit sich bringe, so weit wie überhaupt möglich loslassen – so wie die Kyniker das gemacht haben. Denken Sie an Diogenes in der Tonne: Er meinte sogar, er hätte noch nicht genügend losgelassen, denn er hätte ja immer noch eine Trinkschale und könne doch auch aus der hohlen Hand trinken. Hier ging es darum, sich so weit wie möglich aus Bindungen zurückzuziehen.

Aber es gab noch eine andere, sehr wirkungsmächtige Tradition, nämlich die Stoa. Der stoischen Philosophie, deren bekannteste Vertreter Seneca, Marc Aurel und Epiktet sind, ging es darum, eine Haltung zu entwickeln, in der man sich nicht in die Dinge verstricken lässt, aber trotzdem im Leben steht. In jedem Moment ein Stück weit bereit zum Abschied zu sein, die Vergänglichkeit der Dinge sehr präsent zu haben – Zufriedenheit zu erlangen, ohne das, womit man sich durchaus umgeben darf, wirklich für sich zu brauchen. Uns auf die Dinge nur so weit einzulassen, dass wir dann, wenn wir sie verlieren, nicht das Gefühl haben, ein Stück unserer selbst zu verlieren.

Und diese Traditionen haben sich fortgesetzt?

Ja – diese stoische Arbeit an der eigenen Haltung läuft philosophisch unter der Rubrik der Ethik: Es geht um Lebensführung, um die Frage nach dem guten Leben. Das ist ja in der europäischen Kulturgeschichte mit das wichtigste Bildungsgut gewesen, das eigentlich alle nachfolgenden Denker sehr beeinflusst hat. Mit Kant hat sich dann etwas geändert: Der gute Kant war so genial, dass er die gesamte Ethik und Moralphilosophie ganz neu durchdacht hat – doch bei allem Guten, was er da bewirkt hat, hat er die Lebensführung zu einem theoretischen Problem stilisiert. Das ist seitdem die Hauptrichtung der Philosophie geworden, wie sie heute an den Universitäten gelehrt wird. Deshalb haben viele, wenn sie „Philosophie“ hören, sofort den Gedanken, dass es um etwas sehr Abstraktes geht, das sie mit ihrer Alltagserfahrung überhaupt nicht in Einklang bringen können.

Und wenn wir heutzutage über einen Begriff wie „Loslassen“ nachdenken, dann denken die meisten Menschen zuerst an die östliche Philosophie. Es scheint, als ob unsere Kultur sich gewissermaßen einen Teil, der auch einmal westliche Philosophietradition war, aus der östlichen Tradition wiedergeholt hat.

Das ist interessant. Sie haben die Stoa genannt und die Kyniker – würden Sie sagen, diese Traditionen haben für Sie auch eine alltagspraktische Relevanz? Können Sie da ein Beispiel nennen?

Gerne! Das hat für mich sehr große praktische Relevanz. Einerseits, wenn man diese Texte liest – persönliche Empfehlung: Senecas „Briefe an Lucilius“ –, dann findet man viele Alltagsthemen, die uns heute genauso bewegen wie damals – etwa wie man als älterer Mensch damit umgeht, dass der Körper nicht mehr so kann. Andererseits gibt es dort praktische Übungen, die man anwenden kann, um eine Haltung des Loslassens oder der Gemütsruhe zu kultivieren. Ich selber zum Beispiel praktiziere eine dort empfohlene Übung, die ich „gesunder Pessimismus“ nenne. Es geht darum, eine reifere Haltung zu entwickeln gegenüber Dingen, die regelmäßig passieren und die einen schnell nerven, sodass man gelegentlich auch aus der Haut fährt. Das können bestimmte Bemerkungen sein, die jemand immer wieder fallen lässt oder die Tatsache, dass uns der Nachbar den Parkplatz wegschnappt. Die Übung besteht darin, dass man sich gleich morgens vorstellt, dass genau das heute wieder passieren wird! Wenn es dann tatsächlich vorkommt, wie könnte ich dann ruhig und besonnen reagieren – und handeln? Ich selbst begrüße solche Ereignisse schon fast freudig, weil sie mir einen Anlass bieten, innerlich zu wachsen. Auf diese Weise können wir Geschehnissen gegenüber, die uns sonst niederdrücken und nerven, eine ganz andere Haltung einnehmen.

Das Konzept des Loslassens lässt sich auf Überzeugungen, Vorstellungen, Menschen, Dinge beziehen, es gibt aber auch die Idee: Loslassen, um sich selbst zu finden – in Ratgebern weit verbreitet. Was hat es damit auf sich?

Grundsätzlich: Das ist einer dieser Sätze, die einerseits viel Weisheit enthalten, aber andererseits auch leicht missverstanden werden können. Ich bin der Überzeugung, wir sind Wesen von dieser Welt, wir gehören in diese Welt, sind Teil dieser Welt. Insbesondere wir Menschen sind zudem soziale Wesen, Gemeinschaft ist unser Lebensraum. Die ganze menschliche Kultur inklusive des Individualismus ist eine Gemeinschaftskultur. Deswegen glaube ich nicht, dass mit diesem Satz „Loslassen um sich selbst zu finden“ gemeint sein könnte, man müsste überhaupt alles abstreifen.

Das könnte man ja so verstehen wie in der Meditation, dass man versucht völlige Leere in sich herzustellen …

Ich denke, dass das als Übung einen Prozess in Gang bringt. Aber ich glaube nicht, dass das allein eine sinnvolle Lebensführung ausmachen kann. Ich glaube nicht, dass ein gutes, glückliches Leben im Einklang mit sich in einem Dauerzustand völliger Bindungslosigkeit besteht. Das Produktive der Meditation liegt mehr in einem Neustart, in einem Perspektivenwechsel, um eine Praxis im eigenen Leben zu haben, die einen Ankerpunkt setzt.

Nach meinem Eindruck droht hier eines der Hauptmissverständnisse: Wir finden etwas, das produktiv ist, neigen dann dazu, es zu verabsolutieren und klammern uns an einer vermeintlichen Universal-Lösung fest. Aber wir sind komplexe Wesen und unser Leben besteht aus vielen verschiedenen Bereichen, die wir in einen Zusammenhang zu bringen haben. „Einklang“ heißt ja, verschiedene Dinge in guter Art zusammenzubringen und nicht, dass es nur noch einen einzelnen Ton gibt. Dafür müssen wir uns immer wieder neu darüber klar werden, was uns im Leben fundamental wichtig ist – und das kann sich mit der Zeit ändern.

Das ist ja schon ein Loslassen, dass ich in der Lage bin, die Voraussetzungen für mein Dasein, so wie es im Moment ist, zu reflektieren, zu befragen, begreifen, oder noch weitergehend: auch die Voraussetzungen des eigenen Denkens zu verstehen …

… genau. Ich denke, wir können eine tiefe Einsicht gewinnen in das, was wir möchten – sowohl kognitiv als auch emotional, ja sogar körperlich empfunden. Dann kann das Problem entstehen, dass zwischen unserer tief empfundenen Vorstellung eines guten Lebens und unserer aktuellen Lebensweise ein tiefer Spalt klafft. Wir sind eben Wesen, die Gewohnheiten haben, die eingespielten Handlungen, Gedanken, Erinnerungen nachgehen. Nun kann es sein, dass eben diese Gewohnheiten, die uns ja auch Halt geben, gerade nicht zu dem guten Leben führen, das wir möchten. Dann sind wir nicht im Einklang mit uns. Loslassen in diesem Fall bedeutet, für sich zu klären, was für Bindungen das sind, die uns hemmen und zurückhalten oder gar schaden. Es kann also wichtig sein, Dinge gehen zu lassen, die auch ihr Gutes haben – bei denen wir aber einsehen, dass wir ohne sie längerfristig mehr im Einklang mit uns leben können. Das wäre ein Loslassen, um sich selbst zu finden.

 

Mit Nicolas Dierks sprach Silke Kirch.

Dr. Nicolas Dierks, geboren 1973 ist als Philosoph mit Büchern, Vorträgen und Workshops unterwegs. Der promovierte Philosoph lebt in der Nähe von Lüneburg und gibt an der dortigen Leuphana Universität Seminare in Wissenschaftstheorie. Er berät Unternehmen zum Thema Innovation und soziale Medien, trinkt gerne guten Espresso und vermittelt Philosophie mit Leidenschaft und Humor. Foto: privat.

 

 

Über den Autor / die Autorin

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