“Wir müssen über neue Lebensstile reden”

Silke Stremlau. Foto: Hannoversche Kassen

Wenn Silke Stremlau in der harten Welt der Versicherungswirtschaft und Finanzpolitik für Nachhaltigkeit bei Geldanlagen wirbt, hat sie dabei ein besonders überzeugendes Argument im Hintergrund: Sie ist nämlich Vorständin bei den Hannoverschen Kassen, einer Pensionskasse für den Waldorf-Bereich, die das schon immer so praktiziert – mit anhaltendem Erfolg.

Frau Stremlau, Sie waren vor Ihrer Laufbahn im Finanzbereich schon Ihr ganzes Leben im Umweltschutz engagiert und verfolgen schon lange die Klimakrise. Jetzt haben wir seit gut einem Jahr die Fridays for Future-Bewegung und Klimaschutz ist plötzlich ein großes Thema – warum bricht das jetzt auf? Der Klimawissenschaftler Schellnhuber und andere warnen doch schon seit Jahren vor der drohenden „Selbstverbrennung“.

Schellnhuber ist in der Tat schon sehr lange für das Thema engagiert. Ich habe ihn vor einigen Jahren mal bei einer Präsentation vor Finanzleuten gehört, wo er die laufende Erderwärmung sehr plastisch dargestellt hat, sodass man eigentlich nur erschüttert sein konnte. Er hat übrigens auch Angela Merkel beraten, die ihn dann an Papst Franziskus weitervermittelt hat. Und dessen 2015 erschienene Enzyklika Laudato si, die sich fast ausschließlich mit Umweltfragen beschäftigt, hat eigentlich Schellnhuber geschrieben.

Im Dezember 2015 fand dann die Pariser Klimakonferenz statt mit ihrer überraschend einmütigen Selbstverpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft für das 1,5 Grad-Ziel beim Klimaschutz. Aber das Thema blieb mehr etwas für Experten.

Bis es dann den sehr heißen und trockenen Sommer 2018 gab und dieses Jahr wiederum einen sehr trockenen Sommer …

… der in vielen Regionen Deutschlands nun seine Folgen in Gestalt geschädigter Bäume hinterlässt. Und wir werden auch ein Problem mit dem Grundwasser bekommen. Anders als bei der bedrohten Natur war es aber auch viel schwieriger, die Bedrohung durch die CO2-Konzentration wirklich wahrzunehmen: eine vergleichsweise winzige Zunahme der Konzentration eines Gases in 14 Kilometern Höhe über uns, das schien lange weit weg zu sein.

Jetzt bemerken die Menschen auch emotional, dass dieser Klimawandel wirklich da ist und dass es nicht nur eine spinnerte Idee von Umweltschützern ist. Und dann ist da natürlich Greta, fast noch ein Kind, die mit ihrer besonderen Ernsthaftigkeit, dieses Thema beharrlich verfolgt. Ich glaube, wir brauchen in unserer sehr visuellen Welt auch solche Idole und Menschen, die mit großer Glaubwürdigkeit für den Wandel einstehen! Ich erlebe derzeit, wie das Thema durch die privaten Bereiche geht, kontrovers in Familien und auf Partys diskutiert wird. Das habe ich so in den letzten 30 Jahren nicht wahrgenommen.

Es galt ja lange das Narrativ, dass als erstes die ärmeren Regionen die Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen würden, zum Beispiel die Fidschi-Inseln. Jetzt aber kommt es ganz nah zu uns in Form von Hitze, Dürre, Ernteausfällen und Wasserknappheit. Ich muss sagen, ich bin bisher eigentlich immer ein sehr optimistischer Mensch gewesen und mein Antrieb war immer: du kannst etwas verändern, wir können alle etwas tun. Wenn ich mir jetzt versuche auszumalen, wie mein Leben in 20 Jahren aussehen wird – da habe ich keine Ahnung. Wie soll es weitergehen – wenn die Befürchtungen eintreten und es zu den Kipppunkten kommt, von denen die Klimaforscher reden und die eine noch größere Dynamik des Klimawandels zur Folge haben werden – ich habe wirklich kein Bild mehr, wie es in 20 Jahren aussehen wird. Denn eins ist auch klar: Es kann kein „Weiter so“ geben, wir stehen vor massiven gesellschaftlichen Veränderungen. Aber für mich ist unklar, ob es eine positive Wendung geben wird.

Ich selbst habe immer an den gesellschaftlichen Fortschritt geglaubt – das hat in den letzten Jahren auch durch die weltweiten politischen Regressionen einen Riss bekommen. Und die Jugendlichen von Fridays for Future erleben ja auch ganz persönlich, dass ihre Zukunft gefährdet ist.

Aber für uns Erwachsene ist das, was sie machen, ein Hoffnungsschimmer. Die Jugend tritt sehr selbstbewusst auf und konfrontiert uns Erwachsene mit unserem Konsum und unserem jahrelangen Nicht-Handeln. Ein neues Element dabei ist ja auch ihre Wissenschaftsbasiertheit – Jugendliche tun sich mit Forschern zusammen und machen Druck. Und es passiert ja auch auf der politischen Bühne etwas: Macron hat sich jüngst – bei aller Kritik an seiner Selbstherrlichkeit – sehr für die Rettung des Amazonas engagiert, in Deutschland wird es ein Klimaschutzgesetz geben. Wir haben also derzeit eine Art Window of Opportunity. Das muss genutzt werden!

Eigentlich sind ja viele Instrumente bereits vorhanden: Es gibt das Pariser Klimaabkommen, es gibt den wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung, deren Sprecherin Maja Göpel wir auch schon hier im Heft hatten. Auch Sie arbeiten ja in einem Beratungsgremium der Regierung mit.

Ich bin im Juni in den Sustainable Finance-Beirat der Bundesregierung berufen worden, wo wir versuchen, einen wichtigen Beitrag zur Finanzwende und zu einem nachhaltigen Finanzmarkt zu leisten. Da sind viele Vertreter der Finanzwirtschaft dabei, aber auch NGOs, Wissenschaft und Unternehmen der Realwirtschaft. Und es zeigt sich überraschenderweise: die Wirtschaft würde ein engagiertes Klimaschutzgesetz begrüßen. CO2 braucht einen Preis. Die Finanzwirtschaft kann die Realwirtschaft fördern, wenn die Rahmenbedingungen klar sind. Gerade die öffentlichen Banken, Sparkassen und Volksbanken wissen da um ihre Verantwortung. Die politischen Hindernisse in der großen Koalition sind allerdings groß: zwar schwenkte Söder zuletzt in Sachen Ökologie um, CDU und SPD haben aber über viele Jahre das Thema vernachlässigt.

Auch die Gewerkschaften haben das Thema bisher komplett ausgeblendet. Da geht es immer nur um Arbeitsplätze.

Ja, Ökologie wurde da immer als ein Konkurrenzthema gesehen. Das ist in anderen Ländern anders. In Österreich etwa sind die Gewerkschaften an vorderster Front, was das Thema nachhaltiges Investment angeht. In Deutschland sind die Gewerkschaften stark in den Bereichen Chemie, Stahl und Auto, und gerade diese Industrien müssen die Transformation mitmachen. Wobei es im Falle der Automobilindustrie nicht damit getan ist, dass nun alle auf Elektroautos umstellen. Die Wahrheit ist: neun von zehn Autos müssen weg!

Wie schmerzhaft muss also der Wandel werden?

Ich denke, sehr. Und auch die Grünen machen sich etwas vor, wenn sie meinen, wir könnten unsere Probleme durch grüne Industrien kompensieren und unseren Wohlstand auf dem gegenwärtigen Niveau halten, nur alles ein wenig ökologischer. Wenn wir sehen, was wir kaputtgemacht haben in den vergangenen 100 Jahren mit unserem gewachsenen Anspruch und dem Ressourcenverbrauch und wenn wir sehen, wie die Menschheit weiterwächst, dann müssen wir über Verzicht und neue Lebensstile reden. Das ist längst in der Debatte, aber es wagt kaum jemand auszusprechen.

Weil es nur ein negatives Narrativ ist? Wir könnten es aber auch mit neuen Qualitäten besetzen – intensiv leben heißt ja nicht verschwenderisch leben.

Genau. Gutes Leben statt viel Haben.

Harald Welzer hat darauf hingewiesen, dass wir doch mit dem Standard der 70er Jahre ganz gut ausgekommen sind. Da gab es ja auch keinen Mangel, aber eben noch nicht diesen Mega-Verbrauch wie heute.

Das wird die Herausforderung sein. Und, auch das hat Welzer gesagt, es wird Verteilungskämpfe geben, um Wasser, um bewohnbare Regionen, um Rohstoffe. Das wird kein Spaziergang werden die nächsten 20 Jahre. Viele beginnen aber auch schon mit der Umstellung im persönlichen Leben. Ich selbst habe etwa kein Auto, da wird dann der Radius am Wochenende eben etwas kleiner, weil man nur mit dem Fahrrad fährt. Es ist aber auch weniger stressig, weil man nicht mehr auf verstopften Autobahnen steckt. Aber die individuelle Umstellung alleine genügt nicht, wir brauchen auch eine Politik, die klare Rahmenbedingungen setzt. Die breite Menge ist zu träge, um den nötigen radikalen Wandel alleine durch Einsicht zu steuern.

Gesellschaftlicher Fortschritt ist immer schon von einer kritischen Masse ausgegangen, die dann das, was im Bewusstsein schon klar war, in gesellschaftlich verbindliche Regeln gebracht hat.

Ein Beispiel dazu: Auf unserer diesjährigen Mitgliederversammlung hatten wir die Historikerin Luise Tremel zu Gast, die sich mit der Abschaffung der Sklaverei beschäftigt hat. Ein weltweiter Prozess, der sich über 100 Jahre hinzog und etwas infrage stellte, was bis dahin als normal galt. Irgendwann war dann die Einsicht stark genug, dass Sklaverei den Menschenrechten widerspricht, auch wenn sie eigenen Vorteilen dient. Auch da gab es am Anfang eine Elite, dann eine Mobilisierungsphase und schließlich eine Phase der verbindlichen Regulierung. Übertragen auf die sozialökologische Transformation hieße das zum Beispiel: das Fliegen regulieren, weniger Konsum, kleinere Häuser, ökologische Ernährung. Und irgendwann wird auch ein Großteil der Bevölkerung mitgehen und sagen: Ja, ich bin bereit für ein anderes Leben, denn ich sehe, was ich dadurch auf der anderen Seite an Vorteilen erhalte.

Dieses Interview erschien in der Ausgabe Oktober 2019 der Zeitschrift info3: bewusst leben – Gesellschaft gestalten.

Zur Person:

Silke Stremlau, geboren 1976, studierte an der Universität Oldenburg Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Umweltpolitik und an der Akademie deutscher Genossenschaften erlangte sie den Grad Dipl. Bankbetriebswirtin Management. Sie ist seit Juni 2018 im Vorstand der Hannoverschen Kassen, einer nachhaltigen Pensionskasse für den Waldorf-nahen Bereich und verantwortet dort die Bereiche Kapitalanlage, Nachhaltigkeit und Personal. Seit Mai 2019 ist sie zudem Mitglied im Sustainable Finance Beirat der Bundesregierung sowie seit Juni Aufsichtsrätin bei der UmweltBank.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.