Waldorfschule: Keine Angst vor „Führung“

Ein Gespräch mit dem Organisationsberater Harald Jäckel über mehr Mitwirkungsmöglichkeiten an Waldorfschulen, über die Spannung von pädagogischer Arbeit und wirtschaftlicher Verantwortung und über die Spielregeln guter Führung.

Herr Jäckel, die Waldorfschule ist gerade 100 Jahre alt geworden und zu ihrem Selbstverständnis gehört seit jeher das Prinzip der Selbstverwaltung. Diese Idee ist über lange Zeit vor allem so verstanden worden, dass niemand dem Lehrerkollegium von außen hineinreden kann. Zur Schule gehören aber auch Eltern und Schüler. Ist der Gesamtorganismus Schule bei der Selbstverwaltung deutlich genug im Blick?

Nach meinem Eindruck hat sich die Frage der Schulführung und des Schulmanagements tatsächlich sehr fokussiert auf die Lehrerschaft. Eltern werden im engeren Kreis der Selbstverwaltung meist nur zugelassen, wenn sie den Nachweis erbracht haben, der Waldorfidee mit ihrer spirituellen Substanz sehr nahe zu stehen. Es ist bis heute für Eltern schwer möglich, auch wenn sie konstruktiv und spirituell offen sind, gleichberechtigt mitsprechen zu dürfen. In der Praxis werden oft die Mitwirkungsmöglichkeiten begrenzt unter Berufung auf das Prinzip, dass die Lehrerschaft ihre Schule selbst betreiben und selbstverantwortlich verwalten sollte. Die pädagogische Verantwortung, heißt es oft, müsse allein beim Kollegium liegen.

Sie sagen in Ihrem Buch, diese strenge Trennung von pädagogischer Arbeit und der Schule als Organisation oder Unternehmen sei nicht stimmig. Warum?

Meine Überzeugung ist, dass es keine Entscheidung in einer Schule gibt, die nur wirtschaftlich-rechtlichen oder nur pädagogisch-gestalterischen Charakter hat. Wenn der Schulhof saniert wird und es neue Abfallkörbe gibt, ist das eine pädagogische Maßnahme, die aber auch etwas kostet. Wenn ein Therapiezweig eröffnet wird, um den Inklusionskindern besser gerecht zu werden, ist das zunächst eine pädagogische Entscheidung, die aber selbstverständlich auch Auswirkungen auf den Haushalt hat.

Insbesondere wirken sich ja die wesentlichen pädagogischen Entscheidungen auf das gelebte Profil der Schule aus. Da eine Schule auf eine gute Auslastung angewiesen ist, können diese Entscheidungen die Attraktivität der Schule erhöhen und den guten Ruf schaffen. Pädagogische Qualität und wirtschaftlich gesunde Verhältnisse sind zwei Seiten einer Medaille. Sehen Sie das auch so?

Genau dieser strategische Blick scheint an vielen Schulen zu fehlen. Unter den Ressorts, die ich für das gute Funktionieren einer Waldorfschule vorschlage, gibt es das Ressort „Zukunftsentwicklung“. Für diesen Fokus haben leider die meisten Menschen an den Schulen kein Bewusstsein, keine Zeit oder keine Kraft. Die ständige Erneuerung der Schule ist zentral wichtig.

Dabei geht es nicht nur um eine Weiterentwicklung des pädagogischen Angebotes, sondern auch um die spirituelle Substanzbildung im Zentrum der Schule und in ihrem Umfeld. Aus meiner Sicht ist das Alleinstellungsmerkmal einer Waldorfschule die im Spirituellen verankerte Haltung der Lehrerpersönlichkeiten. Wie kann hier Austausch stattfinden, lebendige Weiterentwicklung geschehen? Wie kann dafür in der Elternschaft Verständnis und Wohlwollen geschaffen werden?

Ein anderes Thema, das an Waldorfschulen oft vernachlässigt wird, heißt Führung. Dieses Thema löst immer noch Widerstände aus, man assoziiert es mit Bevormundung und Vorschriften, dem Verlust von individuellen Spielräumen. Wie verstehen Sie Führung?

Viele Denker und Philosophen haben sich mit dem Thema beschäftigt. Die Botschaft von Laotse aus dem Tao de King lautet: „Wenn der Weise die Menschen führt, ist er mit Demut für sie da. Er leitet sie und geht ihnen voran, indem er hinter ihnen hergeht.“ Diese Aussage kann Orientierung geben, da sie eine dienende Haltung von Führung beschreibt, die bewusstseinsmäßige Korridore eröffnet und einlädt, eigene Entwicklungsprozesse zu initiieren mit Rückendeckung „von hinten“. Dabei ist Führung an einer Schule nicht auf eine Person zu reduzieren. Dafür ist das System Schule zu komplex. Führung kann hier nur bedeuten, dass eine legitimierte Gruppe in einer dienenden Haltung das Gesamtsystem der Schule im Blick hat und Entwicklungsschritte eröffnet. Führung ist nur möglich, wenn Prozesse der Schulführung mit hohem Bewusstsein vorbereitet werden. Und „hinter ihnen hergehen“ kann etwa bedeuten, die Urteilsbildung als Vorbereitung für eine Entscheidung offen, transparent und sehr überschaubar zu gestalten. Das sollte in einer Phase der Entscheidungsvorbereitung geschehen, durchaus mit sehr kontroversen Diskussionen. Aber danach ist auch eine verbindliche Entscheidung zu fällen. Es nutzt nichts, wichtige Entscheidungen monatelang offenzulassen, weil niemand da ist, der die unterschiedlichen Positionen integriert. Man kann hier durchaus von den modernen Unternehmen etwas lernen. Dort gibt es etwa den Grundsatz: „Disagree and commit!“ Es wird also einerseits eine sehr kontroverse Diskussion zugelassen, aber dann durch ein verantwortliches Führungsorgan eine Entscheidung getroffen, zu der auch die anderen sagen können: Ich bin nicht in allen Punkten einverstanden, aber ich trage die Entscheidung konstruktiv mit. Und es wird nicht noch ein halbes Jahr lang immer wieder Kritik geübt oder melancholisch reagiert.

Ist da vielleicht so etwas wie eine Falle entstanden durch den Anspruch, dass Entscheidungen immer in völliger Übereinstimmung und Konsens erfolgen müssen?

Absolut. Ich erlebe immer wieder KollegInnen, die meinen, es dürfe an einer Waldorfschule keine Entscheidung geben, bei der man nicht mitreden und mitentscheiden könne. Wenn aber alle bei allem mitreden und entscheiden, dann frage ich mich, ob Demokratie bei der Führung einer Organisation der richtige Ansatz ist. Das mag bei manchen kleinen Startups in der Pionierphase funktionieren, bei einer Schule aber stellt sich die Frage, ob eine Mehrheit immer die richtige und stimmige Entscheidung garantiert. Wenn etwa über ein neues Dach oder eine neue Heizungsanlage entschieden werden muss. Oder auch wenn es um eine richtungsweisende konzeptionelle Entscheidung geht, etwa welche Ausrichtung und Schwerpunktsetzung eine Oberstufe erhalten sollte. Es geht auch um die Qualifikation einer Entscheidung, um die Voraussetzungen und Konsequenzen. Es ist bei einem Kollegium von oft 80 und mehr KollegInnen nicht gegeben, dass sich jede und jeder intensiv mit den vielen wichtigen offenen Fragen beschäftigen kann. Das wäre auch gar nicht sinnvoll im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen, denn der Kernprozess der Schule besteht in der Durchführung von gutem Unterricht.

Herr Jäckel, im Jubiläumsjahr haben die Waldorfschulen viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, bisher auch viel Anerkennung für das Erreichte. Haben Sie einen Wunsch zum Geburtstag für die Waldorfbewegung?

Ich schätze die Arbeit der WaldorfkollegInnen in den Klassen und im Unterricht ungeheuer. Meine beiden Kinder und meine sieben Enkel durften beziehungsweise dürfen diese Schulform besuchen. Ich kenne keine bessere Pädagogik, weil ich erlebe, wie viel besondere innere Haltung und auch spirituelle Substanz Grundlage des Handelns im Unterricht sind. Aber sobald 60, 70, 80 LehrerInnen im Kreis sitzen, erlebe ich eine Schwere und eine Art von Blockade, ja Resignation, die das Lebendige der Waldorfpädagogik eigentlich zum Erliegen bringt. Dabei gibt es so viele moderne Formen des Miteinanders, von Gruppenarbeiten, Kreativworkshops, auch Möglichkeiten, über das Internet zu kommunizieren, ohne für alles die Konferenzzeit beanspruchen zu müssen – ich wünsche der Waldorfschule, dass die kollegialen Prozesse auf moderne Weise freudvoll und vital sein können. ///

Harald Jäckel war selbst an der Gründung einer Waldorfschule beteiligt, war Waldorflehrer und später als Organisationsberater an vielen Waldorfschulen engagiert.

Buchhinweis:

Harald Jäckel, Die Zukunftsgestalt der Freien Waldorfschule. Ein Beitrag zur Innovation von Strukturen und Prozesse. Arbeitsbuch im Querformat mit zahlreichen Grafiken und Skizzen, Info3 Verlag 2019, € 19,80.

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.