Krisenblüten

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Die letzten Jahre haben eine Vielzahl von Krisen hervorgebracht, wobei jede Krise viele Verlierer und wenige Gewinner kennt. Dabei kann leicht übersehen werden, wer die wohl größte Krisengewinnerin ist, nämlich die Krise selbst. Wie ihre Hochkonjunktur zu erklären und gleichzeitig zu relativieren ist, untersucht unser Autor in diesem Text.

Gefühlt erleben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen Exzess der Krisen (unter anderem Klimakrise, Coronakrise, Ukrainekrise, Energiekrise), die sich so verschachteln und steigern, dass allmählich ihr Gegenpol, die Ruhe, der Wohlstand, die Stabilität verloren zu gehen scheint. Die Inflation des Krisenbegriffs hat dann in diesem Jahr schließlich mit der Inflation des Geldes ihr Pendant bekommen.

Wichtig zu erkennen scheint mir: Diese Krisenblüte hat System. Krisen sind Grenzsituationen, haben existenzielle Auswirkungen und machen die Dinge schnell. Genau diese Faktoren sind in unserer Gesellschaft und Wirtschaft zentral geworden: Schnelligkeit, Ungewissheit, Risiko, sowie eine existenzielle Indienstnahme des ganzen Menschen. Der vermeintlich grenzenlosen Produktivität wachstumsgetriebener Volkswirtschaften nützt die Zunahme an tatsächlichen und fingierten Krisen, um das Spiel am Laufen zu halten. Schon Marx und Schumpeter gingen davon aus, dass der Kapitalismus sich von periodisch wiederkehrenden Krisen ernährt. In einem gesetzten, sicheren und planbaren Umfeld lassen sich viel weniger Dinge verändern als in einem Dauerstresszustand von Möglichkeitsfenstern, Ausnahmezuständen und existenzieller Ergriffenheit der Menschen, der meist von Angst begleitet wird. Die Wirtschafts-, Sozial- und Mediensysteme haben eine verschränkte Eskalationslogik, die immer neue Skandale und Krisenereignisse braucht, um grenzenlos produktiv zu sein.

Waschechte Krisen und Krisenblüten

Für den einfachen Menschen stellt die aktuelle Situation eine große innere und äußere Herausforderung dar, da er sich ständig in die Lage versetzt sieht, abwägen zu müssen, was nun eine wirkliche Krise ist und was aufgebauscht wird. Wer – wie ich – zu Beginn der Coronakrise abwinkte und darin nur eine übliche Aufwiegelung der Affekte sah, wurde angesichts einer gesundheitlichen und gesellschaftlichen Makrokrise eines Besseren belehrt. Diejenigen aber, die vor noch nicht langer Zeit im Zuge der neu auftretenden Affenpocken in den gesteigerten Krisenmodus wechselten (oder einfach darin verweilten), haben sich umsonst ins Hemd gemacht. Als die Energiekrise ruchbar wurde, schmiedete man allenthalben Notfallpläne und ersann „Maßnahmen“ zu Eindämmung. Im Gespräch mit einer Mitarbeiterin einer Therme äußerte diese mir gegenüber existenzielle Sorgen, weil die Schließung aller Thermen „fest beschlossene Sache und teilweise schon umgesetzt“ sei. Dass es sich hierbei nur um einen zu diesem Zeitpunkt bereits fallengelassenen Plan in der Region handelte, wusste die Mitarbeiterin nicht. Einige Wochen später traf ich sie am gleichen Ort, deutlich besser gelaunt – die Krise war in ihren Vorstellungen präsenter gewesen als in ihrem tatsächlichen Leben. Meine Mutter hortet in ihren Schränken Vorräte, um ihr bescheidenes bürgerliches Leben für einige Wochen komfortabel aufrechterhalten zu können. Berge von Kaffeepackungen, Toilettenpapier und anderen Hamster-Devotionalien werden ergänzt durch eine Lampe, die durch Handkurbeln zum Leuchten gebracht wird im Falle „unausweichlich kommender Stromausfälle“. Welche Krise in welchem Ausmaß auch über mich hereinbräche: mir die Zeit davor mit Hamstereien und Angst zu vergällen, ist meine Sache nicht. Erst wenn das Licht aus bleibt, weiß ich vielleicht, dass ich im Dunkeln getappt bin.

Katastrophen furchtlos bannen

Dass die Zeiten stürmisch und fragil sind, ist mir hingegen Intuition geworden. Das bedeutet: Die tatsächlichen Krisen klug und standhaft zu meistern, sich darüber hinaus von Krisenrhetorik nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und so den Blick für die wahrhaften Krisen- und Kraftquellen zu weiten. Ungeheilte kollektive Traumata, die Wunde zwischen Männern und Frauen oder die zwischen Nationen und Völkern, die narzisstische Beziehung der Menschen zu sich selbst und zur Technik, die tiefenökologische Verleugnung der Verbundenheit mit der Natur – das sind für mich erste Stichworte der wirklich grassierenden Krisen, die mit Recht schlaflose Nächte bereiten. Auf existenzieller Ebene liegt die Krise weit tiefer als in den Medien meist gespiegelt wird. Der Dichter Ernst Jünger, selbst krisenerprobt, hat das immer im Auge gehabt: „Der Einzelne hat immer noch Organe, in denen mehr Weisheit lebt als in der gesamten Organisation … Wenn er in reichen, friedlichen Ländern nachts vor Schrecken erwacht, dann ist das so natürlich wie der Schwindel vor dem Abgrunde“, heißt es in Der Waldgang.

Die tiefen Krisenherde sind letzten Endes immer auch verwoben mit Tiefenkraftquellen, die zu Ruhe und Gelassenheit verpflichten; das Erlebnis der Elemente, Momente tiefer Menschlichkeit, neugeborenes Leben, man könnte Vieles anführen. Auch Jünger sieht einen Ausweg aus der Krisenblüte, der mit einem einfachen, unscheinbaren Schritt beginnt: „Es ist nützlich, die Katastrophe ins Auge zu fassen und auch die Art, auf die man in sie verwickelt werden kann. Das ist ein geistiges Exerzitium … In dem gleichen Maße, in dem sich in den Einzelnen die Furcht vermindert, nimmt die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe ab.“ ///

Ein Beitrag aus der Ausgabe November 2022 der Zeitschrift info3.
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Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.