Energiewende: “Wir müssen von der Lösung aus denken”

Der Energie-Experte Jörg Probst ist auch Mitglied der World Goetheanum Association. Foto: privat

Die Lücke zwischen der Ent-Karbonisierung und einer Versorgung durch Erneuerbare Energien ist gewaltig – die akute Krise macht sie so richtig deutlich. Mit dem Energie-Experten Jörg Probst sprachen wir über jetzt notwendige Perspektiven für die Zukunft.

Interview: Jens Heisterkamp

Jörg Probst, wie schätzen Sie als Mensch, der viel mit dem Thema zu tun hat, die derzeitige Energiekrise ein?

Die Situation rund um das Thema Energie ist schwierig, aber sie ist aus meiner Sicht nicht so dramatisch wie es jetzt zuweilen dargestellt und diskutiert wird. Es gibt tatsächlich eine Gasversorgungskrise und eine Strompreiskrise, die gilt es auseinanderzuhalten.

Beginnen wir mal damit, dass offenbar bei der Energiewende bis zu einer vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energien ein Ausbau der Gasverfeuerung eingeplant war. Jetzt wird sichtbar, dass wir ohne diese Gaskraftwerke den Übergang nicht schaffen werden. Aber Gas gibt es nicht ausreichend – wie soll das nun funktionieren?

Wir müssen das Ganze von der Lösung aus denken. Und das ist das, was nicht geschieht. Das oberste Ziel ist doch, spätestens 2050 CO2-neutral zu sein, besser früher. Eine Studie aus Finnland sagte kürzlich, es sei – aus wirtschaftlichen Gründen! – sogar besser, schon 2035 klimaneutral zu sein, weil die Erneuerbaren auch in der Erzeugung ökonomischer sind. Also, wir müssen die Situation von der Lösung aus sehen. Und die Lösung heißt: ganz wesentlich Photovoltaik, im privaten und industriellen Bereich zur Eigenbedarfsdeckung, Windenergie On- und Offshore, Wasserstoff als Brückentechnologie und zur Pufferung von Überschüssen aus erneuerbaren Energien, außerdem Biomasse. Ganz abgesehen von dem derzeitigen Mangel an Gas muss es doch um rasche Klimaneutralität gehen, denn wir haben nur noch wenig Zeit, die Gigatonnen an CO2, die wir in die Atmosphäre ablagern, deutlich zu verringern, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Deshalb ist es für mich klar: die Zukunft ist regenerativ – Punkt.

Ist das aber nicht alles sehr schlecht organisiert?

Ja, ganz sicher! Denn die vorherige Regierung hat gemeinsam mit der Energiewirtschaft Besitzstands-Wahrung betrieben. Nach dem Motto: Klimaschutz ja, aber nicht jetzt. Das will die neue Regierung anders machen und setzt zunächst auf den massiven Ausbau von Solarenergie (PV), weil es mit der Windenergie schwer ist – genehmigungsrechtlich sind schnelle Umsetzungen verwehrt. Dabei ist Windenergie extrem wirtschaftlich und auch grundlastfähig.

Eine kritische Rückfrage dazu: Ein Team um den Ingenieur Professor Christian Holler hat ausgerechnet, was es an Ausbau von Windkraft, PV und nachwachsenden Rohstoffen brauchen würde, um mit diesen Techniken die Leistungsfähigkeit der bisherigen Energieproduktion zu erreichen. Ergebnis in Kürze: Unsere Landschaften wären vollgepflastert mit Windrädern und Photovoltaik-Flächen, ein Großteil der Wälder und der Ackerflächen würde zum Anbau von Biomasse verbraucht. Ist das noch umweltfreundlich?

Wenn wir mit dem Kenntnisstand von heute den Weg bis 2050 denken wollen, dann geht das nicht auf. Das ist noch nie aufgegangen, dass man die Zukunft so weit denken konnte aus dem Vergangenen heraus. Wir hängen zu sehr in Vorstellungen fest, warum es nicht gehen kann. Nach meiner Überzeugung brauchen wir deshalb ein Bild des Gelingens.

Wie soll das aussehen?

In den vergangenen Jahren war energiepolitisch praktisch keine Veränderung möglich. Zum Beispiel auf dem Dach eines Hauses zusammen mit einer anderen Mietpartei den Strom aus einer PV-Anlage zu teilen, das war formal sehr schwierig, fast nicht möglich. Mein Vorschlag ist: Tun wir doch heute alles, was wir können – zum Beispiel, ja, mindestens auf jedes zweite Dach eine PV-Anlage mit einem kleinen Speicher im Keller. Ein guter erster Schritt. Die privaten Haushalte machen ein Viertel des Gesamtbedarfs an Energie aus, davon könnte man heute schon mit vorhandenen Technologien die Hälfte mit Solarenergie zu wirtschaftlichen Kosten decken. Und zwar krisensicher, denn Strom, den man selbst erzeugt, hat langfristig einen sicheren Preis. Das muss nicht einmal gefördert werden staatlicherseits, sondern es muss rechtlich nur ermöglicht werden. Dann können wir im Rahmen der zwei-Prozent-Regelung entlang der Autobahnen, wo die Flächen ja ohnehin belastet sind, im großen Maßstab Freiland-Photovoltaikanlagen bauen. Dann gibt es inzwischen PV-Anlagen, unter denen sogar weiterhin Landwirtschaft betrieben werden kann, wie das zum Beispiel auf dem biodynamischen Heggelbachhof praktiziert wird. Eine weitere Erneuerung ist gerade im Kommen, senkrecht stehende PV-Anlagen, die noch ganz andere Verbreitungsmöglichkeiten haben, oder PV-Anlagen, die auch Wärme erzeugen. Und, ja, wenn es denn viele neue Windkrafträder braucht, dann sage ich: besser das als die Erderwärmung über 2,5 Grad.

Wie schätzen Sie die Perspektiven von Wasserstoff ein?

Da könnte die wasserstoffbasierte Gas-Erzeugung noch wichtig werden, wie derzeit Norwegen zeigt. Das wird in fünf bis zehn Jahren wirksam sein. Wasserstoff wird kommen. Es wird meiner Überzeugung nach das Medium sein, das Erdgas ersetzen wird, und zwar weitgehend CO2-frei. Damit kann man umgehen, mit all der Infrastruktur, die es für Gas schon gibt. Da wird ein Entwicklungsschwerpunkt liegen. Auch Flugzeuge könnten beispielsweise künftig mit Wasserstoff angetrieben werden, CO2-neutral.

Die Effektivität ist aber derzeit noch begrenzt und es geht viel Energie bei der Herstellung verloren, oder?

Ja, aber das darf uns jetzt nicht hindern, die nötigen Schritte zu gehen! Ich wiederhole nochmals: Wir müssen jetzt tun, was wir tun können. Und gleichzeitig müssen wir natürlich den Verbrauch deutlich reduzieren!

Sind die eingeleiteten Sparmaßnahmen, zum Beispiel im öffentlichen Raum, da ein richtiger Schritt?

Ganz sicher: Sparen vor Versorgen! Die Menschen sehen jetzt durch die Knappheit der Energie eine konkrete Notwendigkeit für etwas, was wir ob der Klimaproblematik ohnehin lösen müssen: Energie und Ressourcen sparen und regenerative CO2– freie Versorgung aufbauen. Die Corona- und die Gaskrise haben uns auf die Klimaproblematik schon vorbereitet. Die Industrie in Deutschland hat sich vorbereitet, den Erdgasbedarf jetzt im Winter bereits um 20 Prozent zu senken. Nicht wegen des Klimas natürlich, sondern ob des Gaspreises, der extrem stark gestiegen ist. Und er wird hoch bleiben, der Gaspreis, langfristig nicht auf dem aktuellen Niveau, aber doch deutlich über dem Preis vor der Krise.

Ebenso der Strompreis, der heute durch das Marktpreismodell, die sogenannte merit order, weit über die Maßen gestiegen ist, weil durch dieses Prinzip alle Energieformen den höchsten Marktpreis, nämlich den des Gases, erhalten. Aus meiner Sicht eine schnell zu korrigierende Fehlkonstruktion, die es abzustellen gilt. Viel einfacher als eine Übergewinnabschöpfung wäre ein konkreter Schritt, alle Stromerzeugungsformen mit ihren Kosten zu wirtschaftlichen Preisen an den Markt zu bringen.

Rechnen Sie damit, dass es bei der Energie- und Stromversorgung im Winter zu Ausfällen kommen wird? Vereinzelt haben die Städte und Kommunen ja schon geraten, sich für mögliche Blackouts zu rüsten.

Nein. Es kann angespannte Situationen geben, aber wir haben inzwischen neue Bezugsmöglichkeiten für Gas aus den Niederlanden und aus Norwegen, wir haben neue Flüssiggas-Terminals, wir sparen Energie – und die Gasspeicher sind zu 90 Prozent gefüllt. Ich sag’s mal polemisch: Wenn es einen Blackout gibt, dann dadurch, dass alle ihre neuen Heizlüfter anmachen! – Aber von der Struktur der aktuellen Versorgungssituation her ist das nicht anzunehmen.

Was können die privaten Haushalte zur Verbesserung der Lage beitragen?

Da müssen wir, abgesehen vom Bedarf an Strom, bei den Gebäuden unterscheiden zwischen Bestand und Neubau. Bei dem wesentlichen Faktor, dem Bestand, ist ein sehr wichtiger Punkt die Dämmung, welche durch eine gesteigerte Sanierungsquote kontinuierlich verbessert werden muss. Hinreichend gedämmte Häuser eignen sich für die Wärmeversorgung durch Wärmepumpen, die bis zu 30 Prozent mit Strom aus der eigenen PV-Anlage versorgt werden können. In Kombination mit einem elektrischen Speicher steigt die Eigenverbrauchsquote der Haushalte sogar noch einmal deutlich. Hierfür sind ebenfalls die Weichen für einen niedrigschwelligen Ausbau an Photovoltaik-Anlagen zu stellen.

Beim Neubau ist heute unter dem Stichwort Niedrigenergie, KFW40 und Passivhaus bereits vieles möglich und sinnvoll einsetzbar, auch wirtschaftlich tragfähig. Die Energiebilanzen moderner Gebäude sehen inzwischen so aus, dass wir optimal gedämmte Häuser auf einen Zeitraum von 50 Jahren analysieren und so die Energie für die Beheizung betrachtet wird und ebenso die Herstellenergie, die graue Energie, die für die Baustoffe benötigt wird.

Ich möchte aber noch einmal betonen: Wir müssen nicht alles bis 2050 bereits denken können, weil sicher noch Neues hinzukommen wird. Vielleicht wird es Strom aus Afrika geben, aus großmaßstäblichen Solarfabriken. Aus technischer Sicht habe ich keine Zweifel, dass es Lösungen geben wird. Es gilt jetzt die Wege zu beschreiten, als erstes das zu tun, was wir können. Wir müssen es eben nur von der Lösung her denken, vom Gelingen ausgehen. ///

Jörg Probst ist Energieexperte, Professor an der Hochschule Bochum im Fachbereich Architektur und Geschäftsführer der Menschen und Unternehmen GmbH.

Dieses Interview erschien in der Ausgabe November 2022 der Zeitschrift info3.
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