Bildschirme als Lehrer?

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Geschlossene Schulen, verkleinerte Klassen – der Corona-Lockdown hat die Frage aufgeworfen: Können perfekte digitale Lernsysteme den Menschen im Unterricht ersetzen? Die IT-Industrie steht schon in den Starlöchern.

Von Ingo Leipner

Die Stunde der digitalen Bildung hat geschlagen. Der oberste Vertreter der IT-Branche Achim Berg ruft sogar eine neue Epoche aus. Der Bitkom-Präsident ist überzeugt: „Die Corona-bedingte Digitalisierung hat einen überfälligen Epochenwechsel in den Schulen eingeleitet. Das Rad dürfen wir nicht einfach zurückdrehen.“ „Epochenwechsel“? Was sagt dazu die Wissenschaft? Schauen wir uns einfach Ergebnisse aus Studien an, die im Sommer 2020 zum „Homeschooling“ erschienen sind.

Vier Erkenntnisse

Erkenntnis 1: Die große Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer beschränkte sich auf das Verschicken von Aufgaben-Paketen per E-Mail, wobei ein Feedback auf die Lösungsvorschläge der Schüler häufig ausgeblieben ist.Die Philipps Universität Marburg hat mit der Technischen Universität Dortmund untersucht, wie die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern ablief: Etwa ein Drittel der befragten Eltern sagten, dass die Mathematik-Lehrer*innen bisher zwar Aufgaben zur Verfügung gestellt, jedoch keine Lösungen geschickt haben. Bei anderen Fächern wie Deutsch oder Sachkunde lag der Anteil noch höher. Diesen Trend sehen die Wissenschaftler kritisch: „Das ist aus motivationspsychologischer Sicht bedenklich, da Feedback sowohl mit einer positiven Entwicklung der Leistung einhergeht und motiviert – wenn die Rückmeldung richtig formuliert wird“, heißt es in der Studie.

Erkenntnis 2: Die große Mehrzahl der Schüler hat ihren Zeitaufwand für schulische Aktivitäten in der Corona-Zeit deutlich reduziert. Das Ifo-Institut stellte fest: „Die Zeit, die Schulkinder mit schulischen Aktivitäten verbracht haben, hat sich während Corona von 7,4 auf 3,6 Stunden täglich halbiert“, schreiben die Wissenschaftler. Auch das Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) verzeichnete einen gesunkenen Zeitaufwand fürs Lernen: „Diese Befunde machen deutlich, dass es selbst in den gymnasialen Oberstufen für viele Schülerinnen und Schüler eine Herausforderung ist, ihren Lernalltag mittels Homeschooling zu gestalten.“

Erkenntnis 3: Die sozialen Folgen des „Homeschoolings“ können beträchtlich sein, weil benachteiligte Schüler zuhause überfordert sind. Feedback der Lehrer war häufig Mangelware. Darunter leiden besonders Kinder mit Lernschwierigkeiten: „Die Kinder können sich nicht selber strukturieren und planvoll vorgehen und die Delegation an die Eltern ist schwierig, da gerade die Hausaufgabensituation oftmals stark konfliktbehaftet ist“, sagt Professor Hanna Christiansen von der Universität Marburg. Schlussfolgerung der Wissenschaftler: „Im ‚Homeschooling‘ finden im Vergleich zum normalen Schulalltag wenig Interaktionsmöglichkeiten statt.“

Erkenntnis 4: Die passive Nutzung von Bildschirmmedien hat in der Corona-Zeit stark zugenommen. Das Ifo-Institut stellt fest: „Relativ passive Tätigkeiten wie Fernsehen, Computer- und Handyspielen und der Konsum von sozialen Medien [sind] während der Corona-Zeit stark angestiegen.“ Das heißt in Zahlen: Mit diesen Medien verbrachten die Schüler am Tag 5,2 Stunden, was 1,25 Stunden mehr Zeit bedeutet hat, als es vor Corona der Fall war.

Digitalwelten und Augenkontakt

Klar: Die bisherigen Umfragen liefern nur Momentaufnahmen, die aber grundlegende Tendenzen erkennen lassen. Ein „Epochenwechsel“, wie ihn Bitkom-Chef Achim Berg ausgerufen hat, ist nicht in Sicht. Aber: Wir könnten tatsächlich im Bildungssystem einen epochalen Wechsel à la Berg einleiten. Alle Schulen erhalten Highspeed-Internet und stabile WLAN-Netze, alle Schüler Laptops oder Tablets. Digitaler Fernunterricht wird selbstverständlich, Videokonferenzen werden zum Normalfall, da alle Eltern über hochwertige Netzanschlüsse verfügen.

Die Lehrer haben Dienst-Laptops, sie bilden sich regelmäßig in digitalen Themen fort – und beherrschen so die gesamte Klaviatur des modernen Online-Unterrichts, inklusive digitaler Klassenzimmer und VR-Brillen, um Dinosaurier anzuschauen. Die Lehrerausbildung ist digital organisiert, Referendare tragen die digitale Revolution in jede Schule …

Diese „schönste aller Digitalwelten“ würde aber niemals in der Lage sein, eine entscheidende Quelle sprudeln zu lassen: die ureigenste Kraft des Menschen, durch Resonanz und Begegnung vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, die immer das soziale Fundament für Lernprozesse bilden. Dazu müssen sich Menschen direkt in die Augen schauen – ohne Technik als Hindernis!

So fehlte beim „Homeschooling“ der entscheidende Faktor: ein Mensch, der in Beziehung tritt, um freundlich Wertschätzung zu äußern. Ein Mensch, der seelisch schwingungsfähig ist, weil Beziehungen durch wechselseitige Resonanz lebendig werden. Ein Mensch, der real in seinem emotional-kognitiven Wesen zu spüren ist und nicht auf das Briefmarkenformat eines Videochats reduziert wird. Ein Mensch, der durch klares Feedback Kinder ermutig, ihren Lernprozess fortzusetzen.

Zwar schreibt Professor Klaus Zierer in einem Beitrag für die Welt: Manche Schulen hätten die Digitalisierung „verschlafen“. Wer jetzt aber einfach mehr digitale Strukturen für die Bildung fordert, ist auf dem Holzweg: „Während die genannten Probleme unstrittig sind“, so Zierer, „ist die Ursachenzuschreibung falsch: Die digitale Ausstattung ist nicht der erste Grund. Damit ist ein Mehr an Digitalisierung auch nicht die Lehre aus der Corona-Krise.“

Zierer stützt sich bei seiner Analyse auf die große Meta-Studie von John Hattie („Invisible Learning“): Die „Professionalität von Lehrpersonen“ sei entscheidend dafür, „ob Unterricht wirkt.“ Technik gibt nicht den Ausschlag, ob Fernunterricht erfolgreich ist. Zierer: „Wer also damit argumentiert, dass Digitalisierung der Schlüssel für eine Bildungsrevolution ist, der verkennt oder noch schlimmer: der ignoriert empirische Forschung.“ Was gibt nun wirklich den Ausschlag für guten Unterricht? „Eine intakte Lehrer-Schüler-Beziehung“, so Hattie und Zierer in ihrem Buch Kenne deinen Einfluss!

Resonanzkiller Bildschirm

Lässt sich diese Beziehung nicht auch über Bildschirme herstellen? Zu dieser Frage wollen wir Hartmut Rosa zu Wort kommen lassen, der von einer „Resonanzpädagogik“ spricht. Für ihn bedeutet der Begriff „Resonanz“: „Wir lassen uns von einem Weltausschnitt erreichen, der uns anspricht. Wir machen dabei die Erfahrung, dass wir selbst etwas erreichen oder bewegen können, wir erleben Selbstwirksamkeit“. Es entstehen „Momente des wechselseitigen geistigen Berührens und Berührtwerdens“ – etwa dann, wenn es einem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit der Schüler zu fesseln.
Für den Philosophen Rosa ist „Resonanz“ immer ein „leibliches Phänomen“: „Das ist schon an der Körperhaltung zu sehen, an den Begegnungen und Interaktionen sowohl im Klassenzimmer als auch im Lehrerzimmer.“ Wir orientieren uns als Menschen in einem drei-dimensionalen Raum – mit allen Sinnen!  Rosa sagt klipp und klar: „Resonanzbeziehungen haben immer auch eine leibliche Dimension […]. Und da glaube ich schon, dass Bildschirme potenzielle Resonanzkiller sind.“
Realität schlägt Virtualität, wenn es um „Resonanz“ geht. So bleibt der Präsenzunterricht erste Wahl! Er lebt von der körperlichen Anwesenheit des Lehrers – als Mensch, der nicht einfach Informationen präsentiert. Nein, seine professionelle Haltung drückt sich auch in der physischen Erscheinung aus, sein ganzer Charakter prägt den Unterricht, im Guten wie im Schlechten.

Fazit: Digitaler Notunterricht über die Distanz bleibt eine Krücke, die wir schnell wegwerfen sollten. Was nichts an der Notwendigkeit ändert, diesen Notunterricht zu praktizieren, um Schüler nicht völlig ins Hintertreffen geraten zu lassen. Wer ein Bein gebrochen hat, freut sich auch über seine Krücken. Aber: Ohne Not sollte der Notunterricht nicht verlängert werden, weil echtes Lernen immer ein sozialer Prozess ist, gekoppelt an die Begegnung mit anderen Menschen. Dazu brauchen wir gute Lehrerinnen und Lehrer, die mit ihren Klassen so arbeiten, dass ein Funke überspringt. Ein Funke der Begeisterung, der Schulen zu „Resonanzräumen“ werden lässt, wie sie Rosa in idealer Form vorschweben. ///

Der Text ist eine gekürzte Fassung des Kapitels „Unterricht fürs ‚Schwarze Loch‘“ aus dem aktuellen Buch des Autors Die Katastrophe der digitalen Bildung.

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         Ingo Leipner, Dipl.-Volksw., geb. 1967. Der Wirtschaftsjournalist ist Referent in Sachen Digital-Kritik und leitet die eigene Textagentur EcoWords. Autor verschiedener Bücher zur digitalen Transformation der Gesellschaft. Außerdem freiberuflicher Dozent, u. a. Lehraufträge an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg“; Seminare zum journalistischen Schreiben; Vortragstätigkeit. Kontakt zum Autor hier.

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