Klagen gegen berufsbezogene Impfpflicht

Foto: Rainer Lueck, Wikimedia Commons

Betretungsverbote für Ungeimpfte Mitarbeitende und drohende Versorgungsengpässe für Menschen mit Behinderung haben vier anthroposophische Einrichtungen dazu veranlasst, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage einzureichen. Hintergründe, Motive und Aussichten des Vorhabens.

Am 10. Dezember 2021 wurde die sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht von Bundestag und Bundesrat binnen eines Tages beschlossen. Die Politik nahm sich keine Zeit, sich wirklich damit auseinanderzusetzen. Direkt betroffen sind nun Zehntausende von Fachkräften in Kliniken und Pflegeheimen, aber auch in anderen Institutionen, in denen Menschen betreut werden. Denn deren Angestellte dürfen laut dem neuen Gesetz ab Mitte März nur noch nach Vorlage eines Impfzertifikats ihrer Arbeit nachgehen. Aber je näher der Stichtag rückt, umso stärker treten die von der Politik nicht bedachten Folgen ans Licht. Während Politiker der Regierungskoalition wie Grünen-Sprecher Janosch Dahmen oder Gesundheitsminister Lauterbach vom „Schutzversprechen an die Vulnerablen“ reden, das es einzuhalten gelte, sehen viele Menschen vor Ort diesen Schutz gerade durch das neue Gesetz bedroht. Denn durch mögliche Berufsverbote beziehungsweise Kündigungen von Ungeimpften würde die ohnehin meist dünne Personaldecke in Kliniken und Pflegeeinrichtungen weiter brüchig.

Aus dieser Sorge heraus haben im Februar vor dem Bundesverfassungsgericht vier Einrichtungen der anthroposophischen Sozialtherapie geklagt, die im Rahmen der sogenannten Eingliederungshilfe von der neuen Gesetzgebung betroffen sind. Es handelt sich um die Hamburger Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Franziskus und die in Hessen angesiedelten Gemeinschaften Altenschlirf, Melchiorsgrund sowie Sassen und Richthof, in denen Menschen mit Behinderung beziehungsweise Assistenzbedarf leben und arbeiten. Ausgangspunkt der gemeinschaftlichen Klage ist keineswegs kategorische Impf-Gegnerschaft, sondern die kritisierte Unverhältnismäßigkeit des Gesetzes im Blick auf die Berufsfreiheit, die im Artikel 12 des Grundgesetzes garantiert ist.

„Die COVID-19-Schutzimpfung ist, neben der regelmäßigen Testung und den weiteren Hygienemaßnahmen, einer von mehreren wichtigen Bausteinen zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie“, argumentieren die Klagenden, die bisher auch ohne verpflichtende Impfung funktionierende Schutzkonzepte verfolgt hätten. „Vor dem Hintergrund des Persönlichkeitsrechts auf körperliche Unversehrtheit haben wir uns gegenüber Menschen mit Assistenzbedarf und Mitarbeiter:innen stets für eine freie individuelle Impfentscheidung ausgesprochen und daher frühzeitig Schutz- und Auffrischungsimpfungen angeboten“, ist auf einer gemeinsamen Kampagne-Webseite der vier Einrichtungen zu lesen. Zwischen 75 bis 90 Prozent der Mitarbeiter:innen hätten sich in ihren Einrichtungen aus freier Entscheidung gegen COVID-19 impfen lassen. „Wir befürchten, dass unhaltbare Zustände eintreten werden, wenn durch diese nun eingeführte einrichtungsbezogene Impfpflicht Mitarbeiter:innen im Umfang von zehn bis 25 Prozent nicht mehr zur Verfügung stehen. Ob dadurch, dass sie sich notgedrungen umorientieren müssen, oder weil die Gesundheitsämter Beschäftigungsverbote aussprechen: Diese unersetzlichen Mitarbeiter:innen werden fehlen“, heißt es weiter. Unter den Mitarbeitenden seien insbesondere die „Hausverantwortlichen“ betroffen, weil sie in dauerhaft verbindlichen Hausgemeinschaften mit den Betreuten leben und ihnen und ihren Familien Mitte März im Falle der fehlenden Impfung nun auch der Verlust ihrer Wohnungen droht. Leidtragende wären aber am Ende vor allem die Menschen mit Behinderung, für die der übernommene Assistenzauftrag nicht mehr gewährleistet werden könne.

Ein zentraler Satz der Klageschrift lautet: „Die Eingriffe sind unverhältnismäßig, weil sie nicht geeignet sind, das verfassungsrechtlich legitime Ziel zu erreichen, die in den Einrichtungen betreuten vulnerablen Menschen zu schützen.“ Das 151 Seiten umfassende Dokument wurde am 8. Februar in Karlsruhe eingereicht mit dem Antrag einer einstweiligen Anordnung, die das Gesetz bis zur Klärung in einem Hauptverfahren außer Kraft setzen soll.

Erste Überlegungen zu einer Klage hatte es bereits im Dezember 2021 gegeben. In die Gespräche im Vorfeld seien durchaus auch Überlegungen eingeflossen, ob angesichts der jüngsten medialen Angriffe gegen die Anthroposophie eine solche Klage anthroposophischer Einrichtungen nicht neue Angriffspunkte biete. „Ich habe aber manchmal das Gefühl, dass wir umso angreifbarer werden, je weniger klar wir unsere Haltung formulieren“, erklärt Tobias Raedler von der Gemeinschaft Altenschlirf. Dazu gehört für ihn auch der anthroposophische Impuls eines ethischen Individualismus, der mit der Überzeugung zu tun hat, dass es keine Solidarität ohne Freiheit geben kann. Das entspreche auch dem Prinzip der Grundrechte, die immer Minderheitenrechte zum Schutz vor staatlichen Übergriffen seien. Die Klage und das Eintreten für die Rechte der Ungeimpften und für die Versorgungssicherheit der Betreuten entspricht für ihn durchaus dem Auftrag der anthroposophischen Sozialtherapie, die auf dem Boden des anthroposophischen Menschenbildes steht.

Mit ihrer Klage stehen die vier Einrichtungen in Deutschland nicht allein. Bis zum 3. Februar waren in Karlsruhe bereits 74 Verfassungsbeschwerden von rund 300 Klägern eingegangen, viele davon mit Eilanträgen. Bei Redaktionsschluss wurde ein Antrag vom Gericht zurückgewiesen. Aber auch wenn einzelne Eilanträge abgelehnt werden, muss das Bundesverfassungsgericht auch die übrigen prüfen und außerdem noch ein Grundsatzverfahren durchführen. ///

Mehr Informationen zur Klage: www.vb-impfpflicht.de

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.