Alle blöd außer mir!

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Die Nerven liegen blank. Das Virus oder besser der Umgang mit ihm erweist sich zunehmend als sozialer Spaltpilz. Die Zeugen Coronas und die Corona-Leugner stehen sich unversöhnlich gegenüber. Eine dritte Gruppe, nämlich Leute, die das Virus ernst nehmen, aber kritisch gegenüber manchen Maßnahmen sind, wird durch das dichotome Denken zermalmt. Alles oder Nichts ist das Gebot der Stunde. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns! In den Kommentarspalten beschimpfen sich die Vertreter beider Lager gegenseitig, Tenor: Alle blöd außer mir. „Dummheit, die man bei anderen sieht, wirkt meist erhebend aufs Gemüt“, wusste schon Wilhelm Busch.

Selbst gute Bekannte und Freund*innen, die einen persönlich durch jahrelange Erfahrungen einschätzen können sollten, vermuten einen Schulterschluss mit Rechtsradikalen, bloß weil man eine Maßnahme kritisiert. “Was wenig ergiebig ist, aber immer wieder vorkommt: einer Position vorzuhalten, sie kriege ‘Beifall von der falschen Seite’. Dieser Befund sagt nichts über die Plausibilität eines Arguments aus. Wer in einer offenen Gesellschaft von ‘abweichenden Meinungen’ spricht, als solle es bloß ‘normale’ geben, verkennt den Sinn der politischen Urteilskraft”, schreibt die NZZ.


Begriffe erfahren eine Umdeutung. Man unterscheidet heute Querdenker von Lineardenkern. Ich habe Denken immer so verstanden, dass man in alle Richtungen denken sollte, um die Wirklichkeit einigermaßen zu erfassen. „Jeder, wirklich jeder wollte damals ein Querdenker sein“, schreibt Harald Martenstein in seiner Kolumne im Zeitmagazin, „Walter Jens, Franz Alt, Heiner Geißler, Hoimar von Ditfurth. Querdenker war ein Männerberuf, wie Hufschmied, für Frauen wurde eher das Adjektiv ‘streitbar’ verwendet. Zur Belohnung fürs Querdenken und Streitbarsein gab es in der Regel eine Professur oder eine Fernsehsendung oder beides. Wer heute eine Professur will, denkt besser schnurgerade.“

Ein kritischer intellektueller Diskurs zu den brisanten fachlichen wie gesellschafts-politischen Fragen findet praktisch nicht statt, weil sich niemand in eine Ecke stellen lassen will. „Nie hat sich die Schule zur Maskenpflicht bekannt”, heißt es in dem äußerst fragwürdigen Artikel „Waldorfschulen und Corona: Gefährliche Freiräume“ der TAZ. Es reicht nicht mehr, sich daran zu halten, es braucht jetzt ein Bekenntnis. „Impfpflicht! Was denn sonst?“ befielt Nikolaus Blome in seiner SPIEGEL-Online Kolumne. Das war ja klar, dass die Forderung kommt. Aber der offene Aufruf zur Stigmatisierung ist geradezu bösartig: „Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.“ Andere sehen die Corona-Impfungen als größtes Humanexperiment der modernen Geschichte. Da könnte man auch mal drüber nachdenken nach der extrem kurzen Entwicklungszeit und den Abkürzungen bei der Zulassung.

Alle blöd? Nein! Lasst uns einander nicht hassen. Ich lasse Dir Deine Priorität der Sicherheit. Du lässt mir meine Priorität der Freiheit. Wir sind doch beide nicht dumm. Weder Du noch ich denken, dass es Freiheit ohne Sicherheit, dass es Sicherheit ohne Freiheit geben kann. Wir verstehen doch, dass wir beide unterschiedliche Prioritäten haben. Was uns eint, ist, dass jeder von uns logischerweise seiner eigenen zuerst folgt. Für mich ist das klar, selbsterklärend. Warum sollte ich nicht ebenso selbstverständlich damit rechnen, dass Du das tust? Lass uns uns verstehen, nicht weil wir die gleiche Überzeugung haben, sondern weil wir anerkennen, dass wir beide eine Überzeugung haben.

Über den Autor / die Autorin

Johannes Denger

Johannes Denger ist Heilpädagoge, Waldorflehrer und Info3-Autor.