Von wegen “Impfgegner”

Foto: Hakan Nural /Unsplash

Die Anthroposophische Medizin steht als komplementärer Ansatz schon immer unter Rechtfertigungsdruck. In der Corona-Krise verschärfen sich die Angriffe, indem pauschal eine Fortschrittsfeindlichkeit unterstellt wird, insbesondere in der Frage von Impfungen. Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus, wie ein Blick auf die Positionen der anthroposophischen Ärzteschaft zeigt.

Der medizinische Fortschritt macht auch im 21. Jahrhundert vor den anthroposophischen Krankenhäusern und Arztpraxen nicht halt. Es ergibt sich schon aus der ärztlichen Ethik, nichts auszulassen, was den Patient*innen helfen kann. Dazu gehören selbstverständlich auch Impfungen. Um es unmissverständlich auszusprechen: Anthroposophische Ärzt*innen bemühen sich vielfach um individuelle Impfentscheidungen, sie lehnen häufig eine Impfpflicht ab und weichen im begründeten Einzelfall auch von amtlichen Impfempfehlungen ab – jedoch sind sie keine dogmatischen Impfgegner. Das ist sowohl Befürwortern als auch Kritikern der Anthroposophischen Medizin vielfach nicht klar. Impfgegner, bei genauer Betrachtung eine sehr kleine Gruppe (etwa zwei Prozent der Bevölkerung), werden zunehmend in den Medien als Hindernis bei der Überwindung der Corona-Krise wahrgenommen und zu Sündenböcken stilisiert.

„Meteoritenstaub und Ingwerwickel“

Seit die Corona-Impfungen nun als erhoffte Game-Changer zur Verfügung stehen, ist der Ton noch einmal rauer geworden. So berichtete die angesehene britische Tageszeitung Guardian am 10. Januar 2021 ausführlich über die integrative Behandlung von an Covid-19 Erkrankten in anthroposophischen Krankenhäusern in Deutschland, wo sie auf Normal- und Intensivstationen integrativ, also mit den Mitteln der konventionellen Leitlinien-Medizin und zusätzlich mit speziellen anthroposophischen Therapien behandelt werden. Im Mittelpunkt steht das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin-Spandau, eine Corona-Schwerpunktklinik mit großer Intensivstation, die über modernste Beatmungsmedizin verfügt. Der Artikel von Philip Oltermann, dem Leiter des Berliner Büros des Guardian, ist recht kritisch gegenüber anthroposophischen Inhalten, was nachvollziehbar ist, denn dass „Ingwerwurzel und Meteoritenstaub“ („Ginger root and meteorite dust: the Steiner ‚Covid cures‘ offered in Germany“ so der Original-Titel im Guardian) bei schwerkranken Menschen medizinischen Nutzen haben sollen, ist zunächst kaum nachvollziehbar. Man müsste sich darum bemühen. So liegt es näher, kursierende Vorurteile aufzugreifen und die „Anhänger der Steiner-Philosophie“ in die Nähe von extrem Rechten und Impfgegnern zu rücken.

Was die immer wieder unterstellte Impfgegnerschaft betrifft, sagt ein kleines Filmchen mehr als tausend Worte: Nur wenige Tage nach dem Artikel im Guardian, am 14. Januar, wird ein Beitrag der Abendschau des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) einer Corona-Impfaktion im anthroposophischen Krankenhaus Havelhöhe gewidmet. Man sieht, wie Chefarzt Professor Harald Matthes persönlich die Spritzen aufzieht und ein gut gelaunter Kollege diese verabreicht (der Beitrag ist inzwischen beim rbb nicht mehr online verfügbar). Es handelt sich um den neuartigen mRNA Impfstoff von Biontech, von dem 261 Dosen, ausreichend für fast ein Drittel des Personals, an das Gemeinschaftskrankenhaus geliefert wurden. Professor Matthes stellt in einem kurzen Interview dar, dass nach anfänglicher Skepsis gegenüber den neuen und wenig erprobten mRNA-Impfstoffen inzwischen „eine sehr hohe Impfbereitschaft“ unter den Pflegenden und ärztlich tätigen Mitarbeitenden vorhanden sei. Schulterschluss mit „Impfgegnern“ sieht anders aus. Vielmehr war diese Aktion ein starkes Zeichen pro Corona-Impfung.

Anthroposophische Ärzteschaft: „beeindruckende Vielfalt von Impfstoffen“

In ihren offiziellen Verlautbarungen steht die anthroposophische Ärzteschaft den neuartigen Corona-Impfungen durchaus nicht ablehnend gegenüber. Die Autoren einer richtungsweisenden Online-Publikation auf der Plattform Anthromedics sowie einer Stellungnahme der Internationalen Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA) und der Medizinischen Sektion am Goetheanum gehen davon aus, dass die Impffrage von wesentlicher Bedeutung für die Überwindung der Pandemie sei. Sie würdigen es daher auch als „außergewöhnliche Leistung“, dass es gelungen sei, „in sehr kurzer Zeit eine beeindruckende Vielfalt von Covid-19-Impfstoffen zu entwickeln“. Es wird als gegeben angenommen, dass für die mRNA-Impfstoffe und für einen weiteren verfügbaren, neuartigen Impfstoff in hinreichenden Maße Daten zur Wirksamkeit in Bezug auf die kurzzeitige Verhinderung leichter und auch schwerer Covid-19-Erkrankungen vorliegen. Auch die Sicherheitsdaten in der Kurzzeitbeobachtung seien akzeptabel. Daher erfahren insbesondere die Impfempfehlungen für Risikogruppen, wie sie sich beispielsweise in Alten- und Pflegeheimen befinden, auch von anthroposophischer Seite Zustimmung.

Zugleich wird aber darauf hingewiesen, dass noch nicht geklärt sei, inwiefern die aktuellen Impfstoffe zu einer Unterbrechung des Infektionsgeschehens durch sogenannte „Herdenimmunität“ beitragen können, indem sie nicht nur die Infektion mit den Viren, sondern auch deren Verbreitung verhindern. Das heißt, es ist unklar, ob geimpfte Personen zwar beschwerdefrei, aber dennoch ansteckend sein können – oder nicht. Diese Frage nach der sogenannten „sterilen Immunität“ ist eine ganz entscheidende. Sie betrifft sowohl die individuelle Impfentscheidung („Lasse ich mich impfen, um selbst nicht zu erkranken, oder auch, um andere zu schützen?“) als auch politische Maßnahmen. So gibt es für die Forderung nach einer Impfpflicht ohne Antwort auf die Frage nach der „sterilen Immunität“ gar keine wissenschaftliche Basis. Politiker*innen sollten daher klug genug sein, um (wie bereits geschehen) mit Androhung einer solchen Zwangsmaßnahme nicht ganze Berufsgruppen wie zum Beispiel den Pflegebereich zu vergraulen. Die Impfentscheidung muss frei sein.

Impfregister soll offene Fragen beantworten

Georg Soldner und David Martin weisen auf Anthromedics außerdem darauf hin, dass noch viele weitere Fragen wie Umfang und Dauer des Impfschutzes zu klären sind. So können seltene, schwerwiegende Nebenwirkungen erst erfasst werden, wenn sehr viele Menschen geimpft und ausreichend lange nachbeobachtet wurden. Auch die Erfassung positiver oder negativer unspezifischer Effekte benötigt eine längere Beobachtungszeitdauer. Dazu gehören etwa Auswirkungen auf die Gesamtsterblichkeit oder das gehäufte oder verminderte Auftreten von anderen Erkrankungen.

Um diese Langzeitauswirkungen zu erfassen, fordern Soldner und Martin ausreichend große Langzeitstudien auf der Basis eines verlässlich anonymisierten Impfregisters. Darin sollen mit den verschiedenen Impfstoffen geimpfte sowie ungeimpfte Personen erfasst und über Jahre hinweg miteinander verglichen werden. So könnten auch Impf-Skeptiker, die sich zunächst abwartend verhalten, den medizinischen Fortschritt fördern, indem sie als Vergleichsgruppe zum Erkenntnisgewinn beitragen.

Anthroposophische Medizin: Offen für technischen Fortschritt

Soweit die offiziellen Stellungnahmen der Anthroposophischen Medizin, deren Haltung sich so zusammenfassen ließe: Offen für die neuen Impfungen bei gleichzeitiger Ablehnung von Zwang. Persönlich habe ich den Eindruck, dass die Antworten auf die Gretchenfrage: „Wie hast du’s mit der Corona-Impfung?“ unter anthroposophischen Kolleginnen und Kollegen nicht viel anders ausfallen als in der allgemeinen Ärzteschaft. Es ist auch hier jene Polarisierung zu beobachten, die für die Corona-Krise typisch ist und sich auf vielen Gebieten zeigt. Für die deutsche Ärzteschaft insgesamt ist das „COSMO — COVID-19 Snapshot Monitoring“ (ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Erfurt mit dem Robert Koch Institut und anderen Institutionen) in der zweiten Dezemberwoche 2020 zu dem Ergebnis gekommen, dass 55,74 Prozent der Ärzt*innen die Impfung empfehlen, 12,3 Prozent diese ablehnen und 30,33 Prozent noch unentschieden sind. Und Anfang Januar 2021 wurde in der Fachpresse über eine Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin berichtet, wonach sich etwa die Hälfte der Pflegekräfte und ein Viertel der Mediziner*innen momentan nicht impfen lassen wollen. Diese Zahlen sind gewiss im Fluss, aber sie entsprechen ungefähr dem, was ich auch im anthroposophischen Kolleg*innenkreis wahrnehme.

Seit es die Anthroposophische Medizin gibt, hat sie sich noch nie dem medizinischen Fortschritt verweigert. Das gilt, bei aller Vorsicht, nun ganz offiziell auch für die Corona-Impfstoffe beziehungsweise für die bei ihnen eingesetzten neuartigen Technologien, wie die Injektion von genetischen Informationen in Form von synthetischer mRNA, auch wenn diese noch nie breit am Menschen eingesetzt wurden und Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen erst seit einigen Monaten erfasst werden.

Wir stehen mit den neuen mRNA-Impfungen, über die in dieser Zeitschrift schon mehrfach berichtet wurde, an der Schwelle eines neuen Zeitalters in der Medizin und in der Gesellschaft. Die Hoffnungen, die in diese mRNA-Technologien und verwandte Methoden gesetzt werden, sind weit gefächert, umfassen viele Diagnosen und gehen bis dahin, den Alterungsprozess zu stoppen oder gar umzukehren, wie das der auch im mRNA-Geschäft aktive Unternehmer Elon Musk anlässlich der Verleihung des Axel-Springer Award am 1. Dezember 2020 in Berlin erklärte. Ja, mit der richtigen Gensequenz könne man „jemanden in einen verdammten Schmetterling verwandeln“, so Musk. Es ist dies die Schwelle zum Transhumanismus, die anderenorts auch als „4. Industrielle Revolution“ bezeichnet wird. Die enthemmte Synergie von Gentechnik, künstlicher Intelligenz und anderen disruptiven Technologien ist der Treibstoff für diesen neuen industriellen Zyklus, in dem der menschliche Körper Produktionsstätte und Werkstück zugleich ist. Die mRNA-Impfungen stellen nur den Anfang einer Entwicklung dar, die ungeahnte Perspektiven, aber auch Irrwege weit über die Medizin heraus eröffnen wird. Die Anthroposophie wird sich auch diesem Zeitalter und seinen Herausforderungen stellen (müssen). Wer weiß, wozu sie noch gebraucht werden wird. Vielleicht wird man sich an sie erinnern – wenn wir eines Tages Schmetterlinge sind und feststellen, dass wir gar nicht fliegen gelernt haben. ///

Dieser Text erschien in der Februarausgabe der Zeitschrift info3. Hier das Heft gedruckt oder digital kaufen.

Frank Meyer ist anthroposophische Hausarzt und Gesundheitsautor. Seit 1980 schreibt er für info3. Sein neuestes Buch Corona natürlich behandeln: Covid-19 ganzheitlich verstehen, vorbeugen, heilen, das er zusammen mit Johannes Wilkens geschrieben hat, ist soeben im AT-Verlag erschienen. Dort setzten sich die Autoren auch detailliert mit den Impfungen auseinander.

Über den Autor / die Autorin

Frank Meyer

Dr. med. Frank Meyer ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Akupunktur. Niedergelassen als Anthroposophischer Hausarzt in Nürnberg. Seminar- und Vortragstätigkeiten, Bücher und Artikel in Fach- und Publikumszeitschriften zu den Schwerpunkten Selbstregulation, Integrative Medizin und Naturheilverfahren.

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