„Die Anthroposophische Gesellschaft ist ein Gastgeber“

Foto: Enno Schmidt

Michael Schmock ist seit 2012 Vorstand und seit 2016 Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Mit info3 sprach er über das, was er mit seinem Einsatz verändern will.

Herr Schmock, wie kam es zu Ihrem Engagement für die Anthroposophische Gesellschaft?

Ich habe viele Jahre für einen anthroposophischen Jugend-Impuls gearbeitet, der irgendwann mit 45 Jahren auch schicksalsmäßig zu Ende war. Und die Anfragen, dies in einen größeren Kontext einzubringen – damals ins Arbeitszentrum Nordrheinwestfalen der Anthroposophischen Gesellschaft und später in die deutsche Landesgesellschaft – das hatte mich sehr gereizt. Die Anthroposophische Gesellschaft hat sich verändert und, ich sage das mal so, sie gab dem „Sozialfreak“ Michael Schmock und seinen Fähigkeiten zur Vernetzung einen Stellenwert.

Also, alles gut?

Ich fühlte: Das ist mein Lebensweg, bis dahin, dass ich meinte, dies sei perspektivisch, karmisch so veranlagt. Gleichzeitig habe ich in der Anthroposophischen Gesellschaft sehr gelitten, weil in diesem Umfeld ein deutlicher Duktus darauf lag, die Anthroposophie, so wie sie Rudolf Steiner gegeben hat, zu pflegen. Und diese reine Text-Pflege der Anthroposophie habe ich als einseitig empfunden. Also habe ich viele Veranstaltungen mit Menschen aus den Lebensfeldern gemacht, wo ich ja herkam: Landwirtschaft, Sozialtherapie, Waldorfschule und so weiter. Das war für mich Anthroposophische Gesellschaft! Dabei habe ich eine innere Perspektive entdeckt, die ich so beschreiben würde: Die Anthroposophie braucht sowohl die innere Vertiefung – das ist ihr wesentlich –, als auch den konkreten Zugriff, das Hineinstellen in die gesellschaftlichen Aufgaben, die Notwendigkeiten, die eben die Gesellschaft stellt. Wie sich das aufeinander bezieht, hat mich interessiert, nicht nur das, was sich abgesondert im stillen Kämmerlein realisiert.

Was meinen Sie – wie ist es um die Zukunft der Anthroposophie bestellt?

Zunächst einmal: Die Anthroposophie ist für mich die größte spirituelle Bewegung Deutschlands und Europas. Sie ist deshalb so stark geworden, weil sie einen geistigen Impuls in die Welt gesetzt hat. Und der Zusammenhang von innerer seelisch-geistiger Entwicklung und konkreten, sozialen, ökologischen, ethischen, gesellschaftlichen Aufgaben liegt in der Anthroposophie. Wir können uns heute nicht mehr als Individualität entwickeln, ohne zugleich Teil der Gesamtmenschheit zu sein. Und diese Seite der Anthroposophie herauszuarbeiten scheint mir auch die Möglichkeit für die Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft zu sein. Ein soziales Engagement hat sich verbunden mit dem spirituellen Impuls der Anthroposophie. Wobei soziales Engagement auch Konflikte erzeugt – real in der Welt.

Schließen Sie so durch Ihre konkreten Erfahrungen im Sozialen eine tiefere Erkenntnisschicht auf?

Ich würde fast sagen, das ist ein moderner Einweihungsweg. Beispiel Konflikt: Solange ich davon ausgehe, dass ich mit den anderen Menschen einen Konflikt habe, habe ich nur die eine Seite im Blick. Die tiefere, geistige Seite entsteht erst, wenn ich sage: Ich bin der Konflikt, bin Teil des Vorgangs, der sich da abspielt. Dann entsteht eine seelisch-geistige Fragestellung: Wo kommt der Hass her? Woher die Ausgrenzung, der Missionarseifer? Das ist der spirituelle Schulungsweg, mich zu identifizieren mit dem, was ich verursache. Daran arbeite und forsche ich. Das ist für mich Anthroposophie, mit der ein Schicksalsband entsteht, wie ich wirtschafte, was ich kaufe und so weiter. Diesen Zusammenhang – das nur als Beispiel – sichtbar zu machen, das macht die Anthroposophie stark!

Sie haben aus diesem Zusammenhang 2017 den Bochumer Kongress „Soziale Zukunft“ initiiert?

Ja. Und erstmals sind dort auch alle anthroposophischen Verbände eingestiegen. Ein junger Student, Matthias Niedermann, hat das maßgeblich mitgestaltet – aber auch der Vorstand der Landesgesellschaft arbeitet mit in diese Richtung. Das wird stärker und stärker, das wird die Zukunft. Und es macht mir Freude, weil es sinnvoll ist, den Zusammenhang neu zu begreifen. Der Kongress bedeutet auf den Punkt gebracht: Die Anthroposophische Gesellschaft ist nur ein Teil der Anthroposophischen Bewegung. Die Anthroposophische Bewegung als Ganzes ist das Gefäß für die Anthroposophie.

Sie selbst blieben dort eher im Hintergrund? Es heißt, dass Sie dialogisch arbeiten, sich selbst aber gern zurücknehmen.

Es ist eine soziale Frage, wenn ich mit anderen Menschen verschiedener Strömungen, Praxisfelder und Verbände zusammenarbeite, ob ich mich mit meinen inhaltlichen Anliegen, meinen Weisheiten und so weiter in den Vordergrund stelle. Oder ob ich sage, die Anthroposophische Gesellschaft ist Gastgeber für alle anderen, damit die Anthroposophie der verschiedensten Praxisfelder sich präsentieren und Perspektiven aufzeigen kann. Dies scheint mir eine spirituelle Haltung zu sein, die wir noch zu wenig entwickelt haben. Und daher fühle ich mich in dieser Rolle als Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft am richtigen Platz, weil damit die Anthroposophie selbst in ihrer ganzen Ausbreitung zusammenwirkt. Der Tenor des Kongresses war, dass diese „spirituelle Gastgeberschaft“ als Entwicklungsfaktor wertgeschätzt wird. Wir machen jetzt den nächsten Schritt und sagen: Die Anthroposophische Bewegung ist nicht allein auf der Welt, sondern es gibt andere, zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich ebenso um die Nöte der Welt kümmern wie wir. Im Moment arbeiten wir an einem nächsten Kongress für 2020 mit Partnern aus der Zivilgesellschaft.

Bei info3 kommt seit dem Neuauftritt im Herbst 2019 das Wort „Anthroposophie“ im Untertitel nicht mehr vor. Hat Sie das gestört?

Ich kann das gut nachvollziehen und schätze es sehr, wie info3 mit den Veränderungen – man kann schon sagen: vorbildlich – umgeht. Ich bin, glaube ich, einer der ältesten Leser von info3, das hat meine Biographie immer begleitet. Und ich habe mich selbst lange gefragt: Muss da Anthroposophie draufstehen? Ich bin zum Ergebnis gekommen: Im 21. Jahrhundert muss das nicht mehr draufstehen. Dieses Spannungsfeld, das Sie dagegen aufmachen: „Bewusst leben“ einerseits und „Gesellschaft gestalten“ anderseits, das ist genau das, worüber ich die ganze Zeit gesprochen habe. ///

Dieser Text erschien in der Mai-Ausgabe 2019 der Zeitschrift info3. Hier kostenloses Probeheft anfordern.

Über den Autor / die Autorin

Ronald Richter

Ronald Richter † (18.5.1954 - 18.1.2020) war ständiger Mitarbeiter von Info3, freier Autor und betrieb von Berlin aus das "Kult.Radio" auf www.kultradio.eu