Mittwinter und Rauhnächte

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Mit Weihnachten wird vor allem das Geburtsfest Jesu Christi verbunden. Aber immer wieder spuken auch ganz unchristliche Gestalten durch die geweihten Winternächte – gehörnte Krampusse und Wichtel, (un)holde Frauen und Weihnachtsmänner. Die meisten dieser Wesen stammen noch aus der germanischen Religion und erinnern an die heidnischen Hintergründe unseres Weihnachtsfestes.

Von Thomas Höffgen

Weihnachten ist das älteste und weltweit am weitesten verbreitete Volksfest der Welt. So ist es nur naheliegend, dass sich in ihm auch Einflüsse verschiedenster Kulte und Kulturen wiederfinden: Es ist altorientalisch-spätantik, jüdisch-christlich und katholisch-liturgisch, aber auch vorchristlich und volksmagisch, heidnisch und schamanisch. Denn das Weihnachtsfest ist eigentlich das Fest der Wintersonnenwende und wird seit Tausenden von Jahren feierlich begangen.

Die Wintersonnenwende (immer um den 21. Dezember) ist keine abergläubische Erfindung, sondern empirische Realität: Zu keinem anderen Zeitpunkt im Jahr ist die Nordhalbkugel des Planeten weiter von der Sonne abgewendet als zur Wintersonnenwende; Helios steht über dem südlichen Wendekreis. Daher ist auf der Nordhalbkugel der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres; die antiken Griechen nannten diesen Moment Heliostasion: „Stillstand der Sonne“.

Für die Menschen des Altertums war diese dunkle Jahreszeit fürwahr von existenzieller Bedeutung, denn der Winter war eine durchaus lebensbedrohliche Zeit: Hatte man über das Jahr genügend Ernte eingefahren, eingemacht und eingelagert? War das Vieh versorgt? Das Feuerholz geschlagen? Aber „Mittwinter“ bedeutete nicht nur den „Untergang“ und „Tod“ der Sonne, sondern, weil die Tage danach wieder länger wurden, zugleich auch deren „Auferstehung“ und „Wiedergeburt“ – das eigentliche „Neujahrsfest“. Daher begingen schon die alteuropäischen Bauern vor über fünftausend Jahren winterliche Sonnenkulte und bauten kultisch-astronomische Observatorien, die auf den Lichteinfall zur Wintersonnenwende ausgerichtet waren, man denke nur an Stonehenge. Indoeuropäische Waldvölker wie die Kelten, Germanen, Slawen und Balten verewigten die Wintersonnenwende schon vor zwei Jahrtausenden in heiligen Mythen und enthusiastischen Riten. Und für die Römer ist seit der Kaiserzeit bezeugt, dass sie das Fest des „unbesiegbaren Sonnengottes“ (Sol invictus) exakt am 25. Dezember begingen; von diesem Kultus stammt übrigens auch die Sitte, sich zu Weihnachten zu beschenken. Durch das ganze Mittelalter bis weit in die Neuzeit war Mittwinter ein geradezu heiliger Tag im Bauernkalender. Viele dieser uralten Mythen und Rituale haben bis heute überlebt, wenngleich vielfach abgesunken zu Kindermärchen und Volksbräuchen. In Nord- und Mitteleuropa stammen diese Überlieferungen und Relikte meist aus dem heidnisch-germanischen Kulturkreis.

Rauhe Nächte und Wilde Jäger

Schon das Wort „Weihnachten“ ist germanisch und bedeutet wörtlich „geweihte Nächte“. Auffälligerweise handelt es sich um einen Plural: Offensichtlich gibt es nicht nur eine Weihnacht, sondern mehrere Weihnächte. Tatsächlich bezieht sich der Wortteil -nachten auf den Umstand, dass die vorchristlichen Germanen ihr Mittwinter-Fest über zwölf Tage beziehungsweise Nächte feierten. Noch heute nennt man diese zwölf Winternächte – je nach Rechnung und Kalender zwischen Wintersonnenwende und Epiphanias – „Rauhnächte“. Zu dieser Zeit, heißt es in der volkstümlichen Überlieferung, sei die Grenze zwischen Menschenwelt und Geisterwelt durchlässig: Die Ahnengeister gingen um und forderten Opfer ein. Traditionell wurde jede Nacht ein Räucherritual mit Waldweihrauch durchgeführt, um die Götter, Geister und Dämonen mild zu stimmen sowie Haus und Hof zu segnen (auch die heiligen drei Könige brachten Weihrauch). Daher der Name „Weihnachten“ bzw. „Rauchnächte“.

Möglicherweise leitet sich das Wort „Rauh-“ aber auch vom mittelhochdeutschen rûch ab, was so viel wie „haarig“ bedeutet. Demnach bezieht es sich auf die tierischen und teuflischen Gestalten, die laut alter Sage zur Zeit der Sonnenwende durch die dunklen Winterwälder jagen, die „Wilde Jagd“. Man hat lange gerätselt, was es mit dieser Nachtfahrt auf sich hat und vermutete zunächst, dass es sich um eine phantastische Personifikation des rauen Wintersturmes handelt. Mittlerweile geht man jedoch davon aus, dass es sich bei der Wilden Jagd um einen kultisch-religiösen Umzug handelte, bei dem sich die Ritualteilnehmer in Tierfelle hüllten und ekstatische Tänze vollführten; wahrscheinlich so ähnlich wie die antiken Griechen bei ihren wilden Dionysien, wo man sich als Bock verkleidete (Satyr) oder mit Hirschkalbfell maskierte (Mänade).

Solche Kulte gibt es sogar heute noch zur Weihnachtszeit, zwar abgesunken vom Schamanenritual zum Volksschauspiel, aber immer noch mit stark archaischem Gepräge. Vor allem im Alpenraum wird das Perchtenlaufen, Krampuslaufen oder Klausenjagen praktiziert: Dabei verkleiden sich zwölf junge Leute mit Naturmaterialien (Zweigen, Pelzen und Hörnern) und ziehen unter einem Heidenlärm (Glockenschlag und Peitschenknall) über die Berge und von Dorf zu Dorf, um Heischebräuche aufzuführen. Sie sehen aus wie Teufel, doch handelt es sich um die Darstellung gehörnter Naturgeister aus der vorchristlichen Zeit. In den Gemeinden um den Untersberg wird sogar explizit die „Wilde Jagd“ begangen, die – sofern der Bauer sich spendabel zeigt und Brot und Bier opfert – Haus und Hof mit einem Zauberspruch segnet: „Glück hinein! Unglück heraus! Es zieht die Wilde Jagd ums Haus!“.

Weihnachtsmann und Julbock

In Skandinavien heißt Weihnachten noch heute „Julfest“. Die genaue Etymologie von „Jul“ liegt zwar im Dunkeln, doch steht das Wort wahrscheinlich mit dem altnordischen jóln in Verbindung, was sich als „Götter“ übersetzen lässt. Das Julfest wäre demnach ursprünglich ein Fest zu Ehren der altnordischen Gottheiten gewesen. Auffälligerweise lautet aber auch ein alter Beiname des germanischen Göttervaters Odin „Jólnir“, das heißt: „Herr der Götter“ oder „Herr des Julfestes“. Die Vermutung, dass es sich bei dem skandinavischen Weihnachtsfest ursprünglich um ein heidnisches Odinsritual handelt, wird durch die Flateyjarbók bestärkt, jeneumfangreichste Handschriftensammlung der isländischen Frühzeit, in der es explizit heißt, dass das Julfest für Odin begangen wurde. Wohl in Anspielung auf Odins schamanische Totems, die Raben Hugin und Munin, wurde Mittwinter auch Hugins Jól genannt: „Hugins Festmahl“ beziehungsweise „Festmahl des Raben“. Nicht unwahrscheinlich, dass sich auch die Vorstellung vom Weihnachtsmann, der mit langem Bart, mit Mantel und mit Schlapphut durch die verschneiten Wälder wandert oder reitet, vom selben Aussehen des alten Göttervaters ableitet: „Ho! Ho! Ho!“, lautet ein bekannter Jagdruf des Wilden Jägers, hinter dem sich unzweifelhaft Odin verbirgt; in Skandinavien spricht man gleichbedeutend von odensjakt („Odins Jagd“) oder oskorei („Fahrt nach Asgard“).

Geholfen wird dem Weihnachtsmann bei seiner winterlichen Arbeit bekanntlich von den Wichteln, die ihrerseits in der niederen Mythologie des Nordens beheimatet sind: Besser bekannt als (pl.) „Nisser“ (dän./norw.) oder (pl.) „Tomtar“ (schw./finn.) sind diese Kobolde nachtaktive Haus- und Hofgeister, die den Menschen zumeist Gutes tun; sie tragen gleichfalls eine (rote) Mütze und einen (weißen) Bart. Auch diese Wesen aus der heidnisch-germanischen Religion sind aus dem modernen Weihnachtsfest kaum wegzudenken, alleine schon des „Wichtelns“ wegen.

Ruprecht und Perchta

Eine weitere bekannte Figur der Weihnachtszeit ist der Knecht Ruprecht, der bereits am 6. Dezember im Gefolge des Sankt Nikolaus erscheint; im Alpenraum und in Südosteuropa wird er auch Krampus oder Bartl genannt. Knecht Ruprecht ist eine Schreckgestalt, die böse Kinder mit der Rute straft, guten Kindern aber Gaben bringt. In älteren Darstellungen trägt er schwere Glocken um den gebeugten Leib und erscheint mit Zotteln und mit Hörnern, weshalb er regional auch Pelzebock und Pelzmärtel genannt wird. Jacob Grimm vermutete bereits, dass sich hinter Ruprecht ebenfalls der germanische Göttervater Odin verbirgt, der im Zuge der Christianisierung zum Diener und „Knecht“ des Kirchenheiligen degradiert wurde.

Gewiss ist unterdessen, dass der Name eng verwandt ist mit dem der Perchten, also jener Wesen, die heute noch zur Zeit der Wintersonnenwende fellverkleidet und gehörnt von Hof zu Hof brausen. Auch bei den Perchten verheißen manche Glück und Gutes („Schönperchten“), während andere Unheil und Unglück verbreiten („Schiechperchten“). Bei Ruprecht scheint es sich um eine singuläre Ausformung dieser ansonsten in Gruppe auftretenden Gestalten zu handeln; vielleicht so ähnlich wie bei Pan und den Satyrn im antiken Griechenland. Jedoch treten die Perchten, im Gegensatz zu Ruprecht, vor allem am 6. Januar in Erscheinung, zu Epiphanias, das bis ins Mittelalter sogar Berchttag oder auch Berchtnacht hieß. Gewissermaßen rahmen Ruprecht und die Perchten die ganze Weihnachtszeit mit ihrem Erscheinen ein und begleiten die Rauhnächte von Anfang bis Ende.

Die Perchten wiederum stehen – namentlich, mythologisch und kultisch – in engem Zusammenhang mit der Frau Perchta bzw. Berchta, die als Anführerin der Perchten bezeichnet werden kann. Sie tritt in schwarzem Schaffell, mit spitzen Zähnen und langem Schnabel in Erscheinung, als schreckliches Gespenst, wie eine Hexe, und peitscht die Perchten dazu an, ekstatisch durch den Winterwald zu stürmen und den Schnee hinfortzutanzen. Perchta ist wohl so etwas wie die glänzende Ur-Göttin der Wintersonnenwende (ahd. peraht: „hell, glänzend“). Tatsächlich handelt es sich um keine Geringere als die germanische Göttermutter und Gemahlin des Göttervaters Odin, Frigg (anord.)/Fri(j)a (ahd.), die in vielen Sagen selbst die Wilde Jagd anführt, die „Wilde Jägerin“ und „(Weih-)Nachtfrau“.

Holle und Balder

Im Märchen tritt dieselbe Göttin übrigens unter dem ungleich bekannteren Namen Frau Holle auf; die Identität von Frija, Perchta und Frau Holle ist gewiss. Wie die Perchten vermag auch Holle sowohl „Glück“ als auch „Pech“ zu bringen. Und wenn sie ihre Betten ausschüttelt, das weiß doch jedes Kind, dann schneit es auf der Erde, dann ist Winterzeit und Weihnachten.

Früher sagte man noch, wenn die Wolken abends rosa leuchten, dass Frau Holle gerade Weihnachtsplätzchen backe; später ging diese Redewendung oft auf das Christkind über. Doch wer das Märchen kennt, weiß auch, dass das Hollereich zwar über den Wolken, zugleich jedoch unter der Erde liegt: Durch einen Brunnen, eine Höhle oder an den Wurzeln des Holunders, welcher der Holle heilig ist, findet sich der Eingang in die Unterwelt der holden Göttin. In der germanischen Mythologie ist dies das Reich der Hel, Helheim, und tatsächlich scheint sich der Name der Frau Holle von dieser altnordischen Todesgöttin abzuleiten, die ihrerseits mal liebenswürdig und mal wütend auftritt.

Es gibt sogar die Interpretation, dass im altnordischen Mythos von Hel und Balder die Erinnerung erhalten ist an die alten Mittwinterriten der Germanen: Balder, der strahlende Sohn Odins und Friggs, der sich durchaus als Lichtgestalt und Sonnengott deuten lässt, gelangt durch seinen tragischen Tod nach Helheim. Auffälligerweise wird er mit einem Mistelzweig getötet: Einerseits ist dieses Gewächs eigentlich als Heilpflanze bekannt, andererseits spielt es im Weihnachtsbrauchtum bis heute eine große Rolle („Küssen unterm Mistelzweig“). Jedenfalls trauern alle Götter und begehen eine altheidnische Feuerbestattung. Hermod allerdings, der Bruder Balders, sattelt das Schamanenpferd des Göttervaters, Sleipnir, und reitet tollkühn in die jenseitige Unterwelt, um seinen Bruder vom Tode freizubitten. Dieser wilde Ritt ins Reich der Unterwelt zu dem Zweck, den Sonnengott wieder zum Leben zu erwecken, wird nun mit dem rituellen Treiben in den Rauhnächten verbunden, welches im Wesentlichen ein kultisches Zurückbitten der Sonne und schamanisches Zurückziehen der kosmischen Lichtkräfte darstelle. Fraglich bleibt bei dieser Interpretation freilich, warum es Hermod zunächst gar nicht gelingt, Balder ins Leben zu ziehen. Jedoch erreicht ja auch die Sonne mit der Wintersonnenwende nicht gleich wieder ihren höchsten Stand, sondern wandert gleichsam zögerlich und unsichtbar wieder nach oben. Und tatsächlich prophezeit die Überlieferung im weiteren Verlauf, dass Balder eines Tages aus dem Totenreich Hel wieder zurückkehren und mit seinem Glanz ein neues Zeitalter einleiten werde. Vielleicht ja schon am 6. Jänner, zu Epiphanias, der „Erscheinung des Herrn“ – jedenfalls lässt sich der Name Balder auch als „(weißer) Herr“ übersetzen (urgerm. *balđraz: „Herr, Held“ und indogerm. *bhel-: „weiß, glänzend“). Mit der Wiedergeburt des Sonnengottes sind die Rauhnächte vorüber. ///

Dr. phil. Thomas Höffgen, geisteswissenschaftlicher Privatforscher, Autor und Referent. Bücher zur germanischen Altertumskunde und nordischen Naturreligion: Der verteufelte Waldgott. Die Christianisierung der Germanen (2022), Schamanismus bei den Germanen. Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen (2021) und Volkspoesie. Grimmsche Märchen und germanische Mythen (2019).

Website des Autors: www.thomashoeffgen.de

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