Barfuß – die Welt unter unseren Füßen

Die nackten Füße gewöhnen sich an den Boden. Foto: ©Redaktion info3

Jörg Fritz, Lehrer für Gartenbau und Naturkunde an der Waldorfschule Frankfurt Oberursel, läuft mit SchülerInnen, Eltern und anderen Interessierten barfuß durch die Welt. Silke Kirch war für info3 mit ihm und anderen im Wald unterwegs.

Wie geht’s Ihnen im Alltag, oder vielmehr: wie gehen Sie? Das eine könnte mit dem anderen zu tun haben. Marschieren Sie, schleichen Sie, hüpfen Sie? Das Barfußlaufen beginnt an diesem sonnig-warmen Freitagnachmittag erst einmal mit Laufen lernen. Denn unser alltagsüblicher zielgerichteter Welteroberungskurs – mit der Hacke voran – ist für das Barfußlaufen nicht geeignet. Barfuß steuern wir über den Untergrund nicht geradlinig hinweg, wir tasten uns an. Das geht am besten, wenn zuerst der Ballen den Boden berührt und der Fuß umgekehrt zur Bewegungsrichtung Kontakt aufnimmt. Ein Kontakt, der mit normalem Schuhwerk so nicht möglich ist. Wir üben uns also darin, wie die Indianer zu pirschen, nur dass es beim Barfußlaufen nicht unbedingt um Lautlosigkeit geht, wohl aber um den Spielraum, den eine fühlende Verbindung braucht: leise anrühren und die Möglichkeit bewahren, den Fuß auch wieder zurückziehen zu können. Ganz einfach lassen sich auf diese Weise Verletzungen verhindern. Probieren Sie das mal aus – halten Sie sich die Ohren zu und lauschen Sie, wie das Echo der verschiedenen Gangarten durch ihren Körper klingt. Was ist laut, was leise?

Erste Instruktionen von Jörg Fritz, mit dem wir heute durch den Wald laufen werden. Der beginnt unweit der Waldorfschule Oberursel, wo wir uns auf dem Hof getroffen haben. Auf dem Weg zum Wald üben wir schon mal und sammeln binnen kürzester Zeit eine Vielzahl an Eindrücken. Weiches Gras, spitze Bucheckern, harter Asphalt, warm in der Sonne, kalt im Schatten. Bewegung ist eine Tätigkeit, die uns in Kontakt mit der Welt bringt. Die Füße allerdings merken meist nichts davon, weil sie in Schuhen stecken. Gut geschützt, aber eben auch: isoliert. 

Das hat eine Auswirkung auf den ganzen Menschen. Naheliegend und doch etwas, womit wir uns selten oder nie auseinandersetzen, so sehr ist das Tragen von Schuhen uns zur Gewohnheit geworden. Schuhe sind ja ein wichtiger Ausdruck von Zivilisation, Kultur und Status. Das Ausziehen der Schuhe kann als Beschämung empfunden werden. Es gibt Orte, da würde man ohne geschlossene Schuhe eher nicht aufkreuzen wollen. Auch ich entscheide mich an diesem Tag gegen ein Foto mit meinen Füßen im Moos. Irgendwie zu intim. 

Dabei waren Füße mal wie Hände, ein differenziertes Greif- und Tastwerkzeug. Heute fällt es uns schwer, zwischen den Zehen ein Stöckchen zu halten und weiterzugeben. Sozialer Umgang ist hier Fehlanzeige. Der findet weiter oben statt. Füße scheinen wohl eher Ausdruck des Egos zu sein. Sie gestatten uns den aufrechten Gang und mit ihr Sprache, die Freiheit des Geistes, die gehobene Kommunikation, verloren geht der unmittelbare Kontakt. Umgekehrt gilt das Waschen der Füße eines anderen als ein Ausdruck von Nächstenliebe und Vertrauen. Zuwendung für einen Körperteil, der eher geringgeachtet wird. Die Bibel erzählt davon.

Wie in den Händen steckt in den Füßen der ganze Mensch. Die Reflexzonenmassage macht sich das zunutze. So kann etwa über einzelne Punkte an den Händen – oder eben auch den Füßen – auf bestimmte Organe oder Körperfunktionen eingewirkt werden. Barfußlaufen ermöglicht das gewissermaßen beiläufig, ohne Aufwand, wir kommen auf diese Weise in einen ganzheitlichen Kontakt, den wir so einfach mit kaum einem anderen Körperteil erreichen können. Jörg Fritz meint: Barfußlaufen rhythmisiere den ganzen Leib. Es bitzelt jedenfalls und prickelt, wenn wir über Kiefernnadeln schleichen, durch Laub und Gehölz wanken, über Steinchen eiern und durch Schlammlöcher waten. „Fakirstrecke“ – denke ich, während Jörg von Gehmeditation erzählt. Ich denke an den Igelball, der unter meinem Schreibtisch liegt und den ich mit den Füßen herumrolle, wenn das Denken stockt. Die Füße und der Kopf haben offenbar einen direkten Draht zueinander. Interessant ist ja, dass wir beim raschen Gang im Alltag meist etwas nach vorne gelagert, also mit dem Kopf voran gehen, während beim Barfußlaufen, sofern wir mit den Ballen voran auftreten, das Knie die Bewegung führt. Vielleicht meinte Joseph Beuys das, als er behauptete, mit dem Knie zu denken. Wenn das Knie vorangeht, ist der Kontakt mit der Erde kreativ und vielseitig.

Hier im Wald jedenfalls stellt sich gegenüber den Tannennadeln und Bucheckern ein Gewöhnungseffekt relativ schnell ein, und während ich anfangs noch unablässig auf den Weg vor und unter meinen Füßen starre, beginne ich rasch, mir beim Laufen Notizen zu machen. Urvertrauen in einer neuen Variante. Die Kür dann: Barfußlaufen mit geschlossenen Augen, wir begleiten uns abwechselnd. Hinter meinen lichtbetupften Lidern spult sich ein atemberaubender Film ab: Wiesen, Wälder, Bäche, Luft, Duft, Weite – Kindheitswelten, denke ich. Es ist ein totales Ab- und Auftauchen zugleich. Ich erinnere mich, wie wir als Kinder gebettelt haben, barfuß laufen zu dürfen, wenn die ersten warmen Tage des Jahres kamen. Die Argumente dafür waren uns leider damals noch nicht bekannt, etwa dass Barfußlaufen das Immunsystem stärkt, die Sinne weckt und den ganzen Menschen harmonisiert. Die große Freiheit und Unbeschwertheit dieser Kindertage jedoch kann unmittelbar abgerufen werden, wenn wir die Schuhe zu Hause lassen. Nach einem Dreistundenmarsch durch den Wald jedenfalls erzählen mir die Füße, während ich mich auf dem Sofa lang mache, Geschichten, die ich noch nie gehört habe.

Über den Autor / die Autorin

Silke Kirch

Dr. Silke Kirch ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, Lebens- und Sozialkünstlerin und lebt in Frankfurt am Main.