Vom Wandel der Waldorfkindergärten

Foto: Vereinigung der Waldorfkindertagesstätten Baden-Württemberg

Oliver Langscheid war rund 22 Jahre Geschäftsführer der Vereinigung der Waldorfkindergärten in Deutschland. Im Gespräch mit info3-Redakteurin Anna-Katharina Dehmelt gewährt er Einblicke in eine große Bewegung aus ungewöhnlicher Perspektive.

Herr Langscheid, seit 2001 sind Sie Geschäftsführer der Vereinigung der Waldorfkindergärten und überblicken die Waldorf-Kindergartenbewegung. Was hat sich verändert in diesen 22 Jahren?

Die signifikanteste Veränderung ist wohl, dass sich der Fokus der Gesellschaft auf die frühkindliche Bildung total verändert hat und die Anforderungen an die Kindergarten-Einrichtungen einen enormen Wandel und Anspruch entwickelt haben. Dazu gehört die Ausweitung der Öffnungs- und Betreuungszeiten, der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, der Auf- und Ausbau der Betreuung der ganz kleinen Kinder unter drei Jahren (U3) – das alles vor dem Hintergrund möglichst weitgehender Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Wie ist die Waldorf-Kindergartenbewegung mit diesen Herausforderungen umgegangen?

Die Kindergärten mussten sich stark verändern – und die Vereinigung hat einen guten Weg gefunden, das alles unter einen Hut zu bekommen. Schwierig ist dabei gewesen, dass man sein Ideal nicht verliert, dass man die Grenze zwischen „Wann verkaufe ich mich?“ und „Wann bewege ich mich in einem gesellschaftlichen Feld, dessen Teil ich bin?“ nicht verliert. Es bringt ja nichts, dass alle eine U3-Betreuung machen, nur wir nicht – und dann keine Kinder mehr in die Einrichtungen kommen. Andererseits ist es nicht immer leicht zu sehen, dass die ganz kleinen Kinder nachmittags, wenn sie nach Hause kommen, schon manchmal fünf oder sechs Bezugspersonen hatten und in der Kleinkindzeit so wenig Begegnung mit den Eltern stattfindet. Deswegen haben wir da vielleicht etwas länger gebraucht als andere pädagogische Richtungen, aber heute haben fast alle Kindergärten auch U3-Gruppen.

Wie wird das von der Klientel der Waldorfkindergärten nachgefragt?

Sehr stark. Doppelverdiener-Paare und Alleinerziehende brauchen eine solche Betreuung; Eltern wollen ihre beruflichen Vorstellungen ausleben und sich nicht durch die Familie davon abhalten lassen. Wir haben einen relativ hohen Anteil an Eltern, die ihre Kinder nicht deshalb an einen Waldorfkindergarten bringen, weil sie zwingend anthroposophische Pädagogik wollen, sondern weil sie einfach eine Alternative suchen, weil sie die Betreuungszeiten abgedeckt bekommen, die sie brauchen, oder weil es in der Nähe ist – und dann erleben sie, dass sie diese Pädagogik einfach anspricht und dass es ihrem Kind im Waldorfkindergarten gut geht.

Was sind denn heute die hauptsächlichen Aufgabenstellungen?

Neben den Nachwirkungen von Corona, den ausgeweiteten Betreuungszeiten und den umfangreichen Dokumentationspflichten ist das in erster Linie der Fachkräftemangel. Uns fehlen staatlich anerkannte Erzieher:innen – nur die werden refinanziert –, die zugleich eine waldorfpädagogische Qualifikation haben. Es mangelt an beidem. Die Vereinigung bietet waldorfpädagogische Postgraduierten-Qualifizierungen für staatlich anerkannte Erzieher:innen in berufsbegleitenden Seminaren an, aber auch da werden die 600 Plätze nicht mehr alle besetzt.

Es gibt mittlerweile auch großzügigere Quereinsteiger-Regelungen.

Und dann gibt es die waldorfpädagogisch orientierten Fachschulen, an denen man zugleich die staatliche Anerkennung und die Waldorf-Qualifikation erwerben kann. In der Vereinigung läuft derzeit ein Projekt zur Gewinnung von waldorfpädagogisch ausgebildeten Fachkräften, um möglichst vielen Menschen einen Zugang zu diesen Qualifikationen zu verschaffen, damit Nachwuchs in die Kindergärten kommt, denn da gibt es einen richtigen Personal-Notstand.

Warum ist das denn so schwierig?

Vielleicht ist die Attraktivität des Berufs nach außen hin noch nicht deutlich genug sichtbar. Erzieher:innen werden nicht so schlecht bezahlt; und die Waldorfkindergärten haben einiges zu bieten. Zum Beispiel die Konferenzarbeit, bei welcher ganz viel Entwicklungsarbeit stattfindet – wenn wirklich regelmäßig eine Kinderbeobachtung gemacht wird, wenn wirklich reflektiert wird, dann können die Konferenzen ganz viel bewirken, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mitarbeitenden. Die können sich in ihrer Arbeit als Mensch entfalten und sind beteiligt. Aber es gibt auch viel zu tun. Wir haben uns ja, in der Vereinigung und in den Kindergärten, das schwierigste Verwaltungsmodell ausgesucht, das es auf der Welt gibt: wir machen das in Selbstverwaltung. Und das ist eben schwieriger, als wenn ich eine normal strukturierte Verwaltung habe und der Chef sagt „Wir machen das so!“, dann machen es halt alle so und fragen nicht. Da haben wir mehr Anspruch und dadurch auch mehr Arbeit.

Andere Träger haben aufgeholt, bieten auch mehr Beteiligung, Freispielräume – was ist denn das Alleinstellungsmerkmal der Waldorfkindergärten heute?

Aus meiner Sicht ist das die spirituelle Pädagogik. Durch die spirituelle Arbeit, die die Erzieher:innen pflegen, stärken sie ihre Wahrnehmungskräfte und nehmen dadurch die Impulse der Kinder, die diese mitbringen, besser wahr und können sie auch besser begleiten. Und dadurch arbeiten sie auch ständig an ihrer eigenen Haltung den Kindern gegenüber, an ihren Vorlieben, ihrem Habitus und so weiter. Das wirkt sich in der Umgebung der Kinder aus, und letztendlich sollten wir ja in den Einrichtungen nichts anderes machen als den Umraum schaffen, in dem sich die Kinder entwickeln können. Das ist unser größtes Alleinstellungsmerkmal und auch unser schwerwiegendes Pfund.

Wir haben ja in Bezug auf die anthroposophischen Praxisfelder durchgängig die Gefahr, dass sie in Regeln und Normen erstarren, und das tut natürlich auch keinem Waldorfkindergarten gut. Wie begegnen Sie dem?

Wir begegnen dieser Gefahr mit Fachberatung und haben diese sehr ausgebaut. Die Fachberater:innen besuchen die Einrichtungen immer wieder, begleiten und unterstützen sie, lernen sich kennen. Dabei findet implizit eine Qualitätssicherung statt, denn da kommen natürlich auch Probleme zur Sprache, und dann entwirft man gemeinsam zum Beispiel eine Inhouse-Schulung oder verändert die Konferenzarbeit. Da wird nicht von außen etwas übergestülpt, sondern es entwickelt sich etwas von innen. So bleibt es frisch und belebend.

Nicht nur die Kindergärten arbeiten selbstverwaltet, auch die Vereinigung hat eine selbstverwaltete Struktur. Wie sieht das bei so einem großen Zusammenschluss aus?

Selbstverwaltung heißt nicht, dass alle alles machen müssen. Für mich heißt Selbstverwaltung, dass jede:r nach seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten tätig ist, in dem Bereich, in dem er sie hat. Die Erzieher:innen als Erzieher:innen und andere Menschen als Kaufleute zum Beispiel. Aber: Sie müssen die gleiche Idee verfolgen. Davon lebt die Zusammenarbeit, und dann werden sie eben nicht von außen verwaltet, sondern sie entscheiden selber, wie sie sich organisieren und was sie machen.

Was bedeutet das konkret?

Wir haben alles im Sinne des Subsidaritätsprinzips eingerichtet. Das heißt: Wir sind regionalisiert, und alles, was die kleinere Einheit leisten kann, soll sie auch leisten, bevor sie eine größere Einheit um Unterstützung bittet. Bei den Mitgliederversammlungen haben wir Delegationen, da sind dann nicht zwei Delegierte aus jeder Einrichtung, sondern Delegierte aus den Regionen, aus den Seminaren etc., insgesamt circa 60 Menschen, und die kennen sich meistens und bewegen dann miteinander, wo’s hingehen soll und was die wesentlichen Aufgaben sind. Man muss dabei relativ viele Prozesse zusammenführen, die Bedürfnisse der Einrichtungen sind auch oft von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Das heißt man muss immer offen sein für unterschiedliche Lösungen für das gleiche Problem. Wir sind in erster Linie ein Zusammenschluss, nicht ein dirigistischer Dach-Verband.

Sie versuchen das Durchregieren zu minimieren?

Wir versuchen, das überhaupt gar nicht zu machen. Klar hängen die verschiedenen Einrichtungen und Ebenen miteinander zusammen, aber es gibt keine Durchgriffsszenarien.

Und wie gelingt das?

Man muss sehr viel miteinander reden, auch bei Differenzen. Dann entsteht etwas, entstehen Lösungen. Es gibt natürlich manchmal Konflikte, aber ich kann mich nicht dran erinnern, dass wir mal hätten durchregieren müssen. Eigentlich haben wir für jegliche Probleme im gemeinschaftlichen Gespräch dann einen Konsens gefunden, den alle mittragen.

Nun verabschieden Sie sich nach 22 Jahren von der Vereinigung und wenden sich nochmal anderen Aufgaben zu. Möchten Sie der Vereinigung etwas mit auf den Weg geben? Drei Wünsche haben Sie frei!

Wichtig ist für die Vereinigung, dass sie wirklich und in erster Linie im Bewusstsein behält, dass sie für die Kinder da ist und nicht „abhebt“ – die Gefahr besteht ja bei so einem Dachverband, der gerade keiner sein will, dass man möglicherweise den Kontakt zur Basis verliert.

Zweitens: Mehr Freude daran, sich an neue Gegebenheiten anzupassen – das wünsche ich den Einrichtungen. Offenheit für neue Fragen, ohne dabei zu verlieren, was als Qualität da ist, und Mut, Neues auszuprobieren!

Und vielleicht als Letztes: „Ich spreche aus, was ich denke, und ich möchte mit den Kolleg:innen die Wege beschreiten, die richtigen Lösungen zu finden.“ Keine Zurückhaltung bei Konflikten, die gehören dazu und sind etwas Gutes, wenn man sie bearbeitet, und Auseinandersetzung der Sache wegen ist immer wichtig. Da nicht müde zu werden, sich wegen der Kinder und wegen der Sache auseinanderzusetzen – ich glaube, das ist das Wichtigste, was man tun kann. Weil es die Kinder sind, die unsere Zukunft gestalten werden und dies schon tun. Man muss sich dafür einsetzen, dass sie die bestmöglichen Rahmenbedingungen bekommen, die sie brauchen, um Neues zu entwickeln.

Wir wünschen der Vereinigung der Waldorfkindergärten und Ihnen jetzt auch auf getrennten Wegen von Herzen alles Gute!

Die Vereinigung der Waldorfkindergärten

Der Vereinigung der Waldorfkindergärten gehören derzeit rund 580 Kindergärten an – das ist etwa 1 Prozent aller Kindergärten in Deutschland. Die Kindergärten sind juristisch selbständig und in Regionen organisiert, die autonom arbeiten. Über ihre Beiträge tragen die Kindergärten die Vereinigung, die wiederum einen erheblichen Anteil ihres Budgets für die Qualifizierung von Waldorf-Fachkräften aufwendet. Zur Vereinigung gehören auch elf berufsbegleitende Seminare, die zusammen rund 600 Plätze in zwei- oder dreijährigen Fortbildungen anbieten, und sechs Fachschulen mit ungefähr 120 jährlichen Absolventen. Ein Studiengang für Kindheitspädagogik an der Alanus-Hochschule rundet das Ausbildungsangebot ab. Eine Akademie für die Fortbildung der in den Waldorfkindergärten tätigen Erzieher:innen befindet sich im Aufbau.

Die pädagogische und rechtliche Fachberatung der Kindergärten leistet die pädagogische Qualitätssicherung und ist ausgegliedert an die Praesensio Fachberatungsgesellschaft mbH. An der Integration von Waldorf-Tagesmüttern in die Vereinigung wird derzeit gearbeitet. ///

Oliver Langscheid

1967 geboren, war tätig als Steuerfachangestellter und hat eine betriebswirtschaftliche Ausbildung. Seit 2001 war er Geschäftsführer der Vereinigung der Waldorfkindergärten. Zum 1. März 2023 übernimmt er jetzt andere Aufgaben innerhalb der waldorfpädagogischen Bewegung.

Über den Autor / die Autorin

Anna-Katharina Dehmelt

Anna-Katharina Dehmelt, Jahrgang 1959, studierte Musik, Wirtschaftswissenschaft und Anthroposophie. Sie hat intensiv auf dem Feld der anthroposophischen Meditation gearbeitet, geforscht, vernetzt und anthroposophisches Meditieren bekannt gemacht, zuletzt auch mit dem von ihr begründeten Institut für anthroposophische Meditation. Zudem ist sie Dozentin an verschiedenen anthroposophischen Ausbildungsstätten.
Seit Mai 2021 ist sie Redakteurin bei info3.