„Entscheidend ist die Auseinandersetzung mit den Gefühlen“

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Warum fällt es uns so schwer, sich den eigenen Schwächen zu stellen? Kann die Anthroposophie bei der Aufarbeitung der eigenen Biografie eine Hilfe sein, wo ist sie vielleicht aber auch hinderlich? Ein Gespräch über Selbsterkenntnis aus psychologischer und spiritueller Perspektive mit Renate Hölzer-Hasselberg.

Unsere Gesellschaft ist stark vom Leistungsdenken dominiert. Auch jüngere Menschen scheinen immer höhere Ansprüche an sich selbst zu stellen – Stichwort Selbstoptimierung. Was passiert da?

Wir alle verfügen ja über einen gewissen Funktionsmodus in uns und den brauchen wir auch. Wir haben aber auch alle einen ausgesprochen bedürftigen Teil in uns, der seine Zuwendung braucht. Aus den Erfahrungen in der Praxis kann ich sagen, wenn sich die Identität eines Menschen in einem zu hohen Grad aus einem selbst aufgestellten Leistungskatalog herleitet, dann ist das sogenannte Burnout vorprogrammiert.

Was kann man gegen eine solche Vereinseitigung tun?

Wenn ein Mensch es ernst nimmt, dass er eine erwachsene Persönlichkeit ist, aber in sich auch ein sogenanntes Inneres Kind trägt, mit dem Bedürfnis nach Schutz, Glück, Liebe und Geborgenheit, gibt das ein Gleichgewicht. Wenn stattdessen aber die gesamte Biografie vollständig dem Funktionsmodus untergeordnet wird, dann werden Menschen einfach krank. Die Zeitsignatur und die Anforderungen, oft beschleunigt durch schnell wachsende technische Veränderungen, sind für viele Menschen so immens, dass man verstehen kann, wenn viele glauben nicht mehr mitzukommen und sich abgehängt erleben. Es entstehen Angst-Szenarien, die dann wieder zu Optimierungsvorhaben führen, von denen man sich Überlebensstrategien erhofft, um in den eigenen und gesellschaftlichen Anforderungen nicht unterzugehen. Und das geht solange scheinbar gut, bis einem irgendwann der Stecker herausgezogen wird, um es mal etwas platt zu sagen.

Insbesondere das berufliche Leben ist vielfach darauf abgestellt, immer ein Optimum an Leistung zu erbringen, und man erwartet es auch von sich selbst.

Da braucht es schon ein eigenständiges und differenziertes Bewusstsein, um sich einen stabilen Persönlichkeitskern zu bewahren, der sich ein Stück weit emanzipiert hat von solchen Ansprüchen. Und der erkannt hat: Es ist eine Falle, sich nur über Leistung zu definieren und Anerkennung durch Zusprechung von außen zu erwarten.

Da scheint es um einen feinen Grat zu gehen: einerseits gibt es die Falle der Leistungs-Definition, auf der anderen Seite aber auch einen legitimen, fruchtbaren Ansatz der Selbstentwicklung – wenn ich beispielsweise Ansprüche an mich habe, aufmerksamer, fürsorglicher für andere zu sein. Wo kippt das genau?

Das hängt vom Motiv ab. Wenn das Motiv ist: Ich will mein Mensch-Sein, beispielsweise meine Empathiefähigkeit weiter entwickeln, dann ist das ein anderes Motiv als die Hoffnung, nach außen in einer bestimmten Weise zu erscheinen. Die Frage ist, einfach gesagt: Will ich in mein Image investieren oder in meinen Charakter? Sich in seinem Charakter entwickeln zu wollen ist immer eine gute Entscheidung.

Gibt es nicht auch in diesem Bereich der inneren Entwicklung Gefahren, sich selbst zu überfordern – gerade bei religiösen oder weltanschaulichen Hintergründen wie auch der Anthroposophie?

Wenn es um das Thema Selbsterkenntnis geht, ergibt sich oft folgende Situation, für die ich einmal ein Bild verwenden möchte: Nehmen wir an, ich befinde mich in einem Fahrstuhl. Da gibt es verschiedene Etagen von der ersten bis zur vierten und fünften ganz oben. Solche Etagen gibt es auch in der inneren Entwicklung. Eine dieser Etagen im Rahmen einer spirituellen Psychologie ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Kindheits-Traumata, mit den großen biografischen Schritten, mit den eigenen Lebenswünschen und Hoffnungen. Der Aufzug geht durch alle Stufen des biografischen Panaromas durch. Dabei geht es weniger um nüchterne biografische Fakten als um Gefühle. In der Therapie sage ich oft: Ich möchte weniger wissen, was Sie zu einem bestimmten Punkt denken, sondern was Sie eigentlich dazu fühlen. Die Versuchung ist groß, mit dem Fahrstuhl gleich hochzusausen bis ins Obergeschoss und dort die Aussicht zu genießen, die großen Ziele des Menschseins zu kennen, die dann aber nur abstrakte Ideale bleiben. Besser ist es aber, in jedem Stockwerk innezuhalten und sich der Mühsal zu stellen, bei den einzelnen biografischen Stufen zu fragen: Was fühle ich dazu und was hat das mit mir gemacht?

Fördert die Anthroposophie vielleicht die Neigung, solchen Auseinandersetzungen auszuweichen?

Ich denke nein. Jeder Mensch hat ja zunächst das Bedürfnis, sich selbst auszuweichen. Das Verführerische liegt darin, eine Weltanschauung zu benutzen und mit ihr sein So-Sein zu legitimieren. Gerade der Karma-Gedanke, das Einbeziehen von Schicksal, kann zwar im Prinzip enorm hilfreich sein bei der Bewältigung einer Krise, kann aber auch dazu verführen, mein So-Sein als karmisch unausweichlich anzusehen, und dann ändere ich nichts in meinem Leben. Die Anthroposophie wird dann als Legitimation angesehen, eine Gefühlsauseinandersetzung mit sich selbst zu vermeiden, denn die ist in der Regel schmerzhaft. Wenn eine biografische Grundbereinigung nicht unternommen wird, besteht bei Menschen mit einem weltanschaulichen Hintergrund wie der Anthroposophie immer die Gefahr, dass die eigenen neurotischen Probleme durch ein bestimmtes Denkverhalten nicht aufgelöst werden, sondern sozusagen begründbar werden und sich dann sogar noch manifestieren. Auflösen würden sie sich nur durch eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Bereich des Seelischen.

Für die Selbsterkenntnis ist es ja entscheidend, sich wenigstens ansatzweise wie von außen sehen zu können und beispielsweise zu fragen: Wie wirke ich auf andere. Warum fällt uns das so schwer?

Weil es dazu unglaublich viel Mut braucht, vor allem zur Desillusion, und die Überzeugung, dass meine Persönlichkeit in ihrer Substanz nicht in Frage gestellt wird, wenn ich auf meine Schwächen schaue oder mir diese gespiegelt werden. Der Wert meines Menschseins wird davon nicht gemindert. Man kann das aber nur zulassen, wenn man sich als ein entwickelndes Wesen versteht. Sich weiterzuentwickeln bedeutet aber oft auch, sich von manchen Dingen zu verabschieden, einen kleinen Tod zu sterben. Es kommt dann oft etwas Neues, aber nicht unbedingt sofort, so dass ein Vakuum entstehen kann, das man aushalten muss. Und dazu braucht es eben Mut. Aber immer wenn eine Integration verdrängter Gefühle gelingt, gewinnen wir in unserem mittleren Bereich ein ganz neues seelisches Volumen, eine andere Freiheit und auch eine andere Liebefähigkeit für andere.

So etwas muss man sich aber bewusst vornehmen?

Ja, manche Menschen machen das aus freiem Entschluss, andere erst, wenn es unumgänglich geworden ist. Etwa wenn ich in einer tiefen Krise merke, dass es nicht weitergehen wird, wenn ich in meiner gewohnten Weise weiterlebe.

Persönlich und in der therapeutischen Arbeit erlebe ich immer wieder solche Situationen. Nehmen wir an, jemand erhält eine Krebsdiagnose oder er oder sie wird verlassen. Das sind dramatische Vorgänge. Das erste was dann auftritt, ist: Menschen haben das Bedürfnis, darüber in Gegenwart eines anderen zu sprechen, immer und immer wieder. Das Wichtige dabei: Ein anderer soll bezeugen, dass deine Not und deine Gefühle berechtigt sind; so darfst du sein, du darfst traurig sein. Oft haben wir als Kinder erlebt, dass unsere Gefühlslage nicht ernstgenommen und oft auch gar nicht wahrgenommen wurde. Das verunsichert für das ganze Leben, man weiß bezüglich der eigenen Gefühle dann nicht, was richtig und falsch ist. Also, es geht darum, sich den eigenen Gefühlen bewusst zu stellen und sie anzunehmen.

Dann kommt als eine zweite Schicht immer hinzu, dass nach der Sinnhaftigkeit gefragt wird. Warum passiert ausgerechnet mir das? Es gibt einen schönen Satz des Mediziners Victor von Weizsäcker, der sinngemäß lautet: Lass keine Krankheit vorübergehen, deren Sinn du nicht erschlossen hast. Wenn also diese Frage kommt: Was hat das mit mir zu tun?, dann wird eine Antwort darauf Menschen, die zuvor bereits eine spirituelle Lebenseinstellung hatten, etwas leichter fallen. Denn am Ende gilt hier, was Viktor Frankl einmal so gesagt hat: „Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist.“ Diejenigen Menschen, die dann irgendwann ihre Kraft nicht mehr in den Widerstand, nicht in irgendeine Schuldzuweisung oder in ein „Hätte ich doch nur nicht“ stecken, sondern die es ganz tief fühlen können: Es hat mit mir zu tun, bei denen verändert sich dann etwas. Und vielleicht kann dann noch zusätzlich der Gedanke hinzukommen: Das Karma ist immer gut.

Ein allerdings auch heikler Gedanke …

… das ist er tatsächlich! Deshalb kann er auch nur ganz individualisiert und nie pauschalisierend verwendet werden. Man kann das keinem Menschen von außen „anbieten“, das wäre zynisch, wenn er gerade viel Leid erlebt, auch in der Therapie ist das nicht gut. Einen Menschen von außen belehren, vor allem, wenn er in Not ist, bedeutet fast immer, ich will mich auf keine emotionale Beziehung einlassen. Wir flüchten dann aus der geforderten Empathie und Mitleidsfähigkeit in abstrakte Ratschläge und Verhaltensformen. Wir verwenden eine Formel. Da wird dann etwas an sich Wahres wie ein Surrogat eingesetzt anstelle einer Beziehung. Nur ich selbst kann mir sagen – wenn ich denn dahin komme –: mein Karma ist gut. Ich kann mir vielleicht klarmachen: Ich leide, vordergründig habe ich das nicht gewollt, aber in einem tieferen Sinne vielleicht doch, weil es mit meiner Entwicklung zu tun hat. Wenn jemand beispielsweise stark unter seiner oder ihrer Vaterfigur gelitten hat, dann kann der Gedanke, dass man sich diese spannungsvolle Beziehung selbst ausgesucht hat, am Ende vielleicht dazu führen, dass man verzeihen kann – aber wohlgemerkt am Ende eines Aufarbeitungsprozesses und nicht am Anfang als tote Vorstellung oder gar Aufforderung.

Resilienz und Heilung hängen jedenfalls ganz maßgeblich davon ab, ob ein Mensch, der Schweres erleidet, dies auf sich selbst beziehen kann. Das ist nicht leicht, und üblicher ist ja die Haltung, die sich in dem Satz bündelt „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ – und auch dafür muss man tiefes Herzensverständnis aufbringen, wenn das Leid einfach so groß ist, dass ein Mensch dazu kein Verhältnis gewinnen kann. Dann kann es ein Weg sein, die Not einfach nur zu begleiten. Ich war in meinem ersten Beruf Krankenschwester und habe dabei etwas bemerkt: Wenn man bei Sterbenden sitzt, wo man nichts mehr tun kann und auch nichts mehr tun muss vielleicht, außer die Hand zu halten oder ein Gebet zu sprechen, da ist das einfache Da-Sein eine große ethische Leistung; für mich war es immer viel einfacher, den Leidensdruck durch irgendein Tätig-Sein, eine medizinische Hilfe noch abmildern zu können. Dieses absichtslose, aber ganz intensive Anwesend-Sein und Begleiten ist eine gute Übung auch für andere Situationen, in denen es darum geht, dass ein anderer das entwickelt, was seinen Möglichkeiten jetzt entspricht. ///

Das Gespräch führte Jens Heisterkamp / Erschienen in der Ausgabe März 2023 der Zeitschrift info3.

Renate Hölzer-Hasselberg ist ausgebildete Krankenschwester und Fachschwester für Psychiatrie. Seit langem arbeitet sie als Schul- und Entwicklungsbegleiterin in anthroposophischen Einrichtungen, langjährige Berufstätigkeit in Psychotherapie (HP), Entwicklungsbegleitung, Erziehungsberatung und Biografiearbeit. Sie lebt in Hamburg. Im Info3 Verlag ist von ihr erschienen: Entwicklungschance Patchwork. Wahlfamilien auf dem Weg zu neuen Beziehungsfähigkeiten.

Über den Autor / die Autorin

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