Kleiderprojekt Oktopulli: Mit sich selbst wachsen

Gründerinnen Carla Reuter und Nancy Frehse. Foto: Oktopulli

In Berlin-Kreuzberg haben die Wirtschaftsstudentinnen Nancy Frehse und Carla Reuter das nachhaltige Label Oktopulli ins Leben gerufen: Kleinkindpullover im Slow-Fashion-Modell. Unsere Autorin war zu Besuch im Atelier und hat mit den Gründerinnen über Verantwortungseigentum, Sinnstiftung, eine offene Werkstatt und ihre Erfahrungen mit der Unternehmensgründung gesprochen.

Nancy Frehse und Carla Reuter haben sich 2018 im Masterstudium Ökonomie und Gesellschaft an der Cusanus Hochschule kennengelernt. In der Coronazeit wuchs bei beiden der Wunsch nach einem sinnvollen Projekt. Durch Zufall entstand der Prototyp des Oktopulli, als Frehse einen nachhaltigen Pullover für ihren Neffen nähen wollte. Die Nachfrage im Familien- und Freundeskreis stieg schnell. Inzwischen fertigt das Unternehmen auch T-Shirts für Kinder.
Als sich die Lage der Geflüchteten im Lager Moria auf Lesbos verschlechterte, wühlte das Reuter und Frehse sehr auf. Also haben sie beides miteinander verbunden: ihre Freude am Schneidern und ihre Vision, sinnvoll unternehmerisch tätig zu sein, um Spendengelder für Moria zu generieren. Als sie den Schneider Fahim Abbasi aus Afghanistan kennenlernten und vermehrt Interesse am Oktopulli beobachteten, haben sie entschieden, das Unternehmen Oktopulli zu starten. Im März 2022 haben sie das Ladenlokal mit offener Werkstatt eröffnet.

Vor einem Jahr hatten sich Nancy Frehse und Carla Reuter das Ziel gesetzt, circa 20 Pullover pro Quartal zu verkaufen, um Geld an den Sea-Watch e.V. zu spenden, einen Verein für zivile Seenotrettung. Die Bilanz: „Im Dezember ging bereits der neunhundertste zum Verkauf raus“, berichtet Frehse. Und das ohne Gedanken an Gewinnmaximierung oder eine Unternehmensgründung: „Uns ging es darum, im kleinen Rahmen Sinn zu stiften.“ Es sei ein sehr intensives Jahr gewesen, mit vielen Fragen und Unbekannten, stimmt Reuter zu. „Aber wir drücken uns nicht vor Verantwortung, sondern nehmen sie gerne an. Das gipfelt dann eben darin, wo wir heute stehen.“ Das kleine Atelier im Souterrain sieht nicht aus wie ein klassischer Konsumladen: Am Fenster stehen ein Bügelbrett und eine Nähmaschine, Kinder bleiben draußen stehen und schauen neugierig in die Nähwerkstatt. Im Innern herrscht eine ruhige, konzentrierte und freundliche Atmosphäre. Die Tür zum Nebenzimmer steht offen, Mitarbeiterin Sina Rudi steht am Schneidetisch. Die offenen Räume laden zum Verweilen und Mitmachen ein. Ihren Traum der offenen Werkstatt haben Reuter und Frehse im März verwirklicht: Kinder können im Laden ihre Pullover selbst designen und in Bildungsworkshops mehr über die Herstellung eines Pullovers und Slow Fashion lernen.

Eine Rechtsform für den Gemeinsinn

Im April 2021 hatten Frehse und Reuter den ersten Pullover genäht und auf der Internetplattform Etsy verkauft, damals als Solo-Selbstständige. Das Verantwortungseigentum sei, so Frehse, von Anfang an die Rechtsform ihrer Wahl gewesen, auch wenn sie mit komplizierteren Verfahren einhergehe. „Oktopulli soll keine gewinnorientierte GmbH werden. Den kapitalistischen Antrieb zur privaten Geldwertanhäufung vermeiden wir entschieden“, so Frehse. Die Masterabsolventin bringt langjährige Erfahrung in Vereinsgründungen mit und Reuter den juristischen Hintergrund. Beide verbindet ein Interesse an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformation und der Blick auf das Gemeinwesen. Das Verantwortungseigentum bilde, so Frehse, am besten den Gedanken ab, dass immer verschiedene Entitäten und Menschen an der Gestaltung einer Sache beteiligt sind und die Gewinne des Unternehmens allein dem Unternehmen gehören. „Dadurch konnten wir den Aspekt unterstreichen, dass wir ein Produkt herstellen, um Menschen einzustellen, und nicht andersherum. Wir lieben unser Produkt, aber es ist vor allem Mittel zum Zweck: Arbeitsplätze schaffen und nachhaltigen Konsum ermöglichen. Wir wollten zum Beispiel unserem Schneider Fahim Abbasi aus Afghanistan einen Arbeitsplatz anbieten. Es ging uns noch nie darum, einfach immer mehr zu verkaufen. Innerhalb des Verantwortungseigentums können wir so denken.“ Außerdem, so Reuter, sorge das Rechtskonstrukt dafür, dass niemand in die Gewinnfalle tappe. Zudem könnten Kund:innen die Preise eher annehmen, wenn kein Profitgedanke dahintersteht. „Bei Oktopulli zahlt man nicht für die Marke, sondern dafür, was wir brauchen: gerechte Löhne und nachhaltiges, faires Material.“

Mit dem Projekt wachsen

Nachhaltiges Gründen, das beweisen Frehse und Reuter, braucht mehr als große Visionen und Ziele. „Uns geht es darum, mit uns selbst zu wachsen und das Ding an sich nicht aus den Augen zu verlieren. Wir schauen nach dem nächsten Schritt, ohne den Ist-Zustand aus den Augen zu verlieren“, so Frehse. Mit ihrem Projekt möchten sie eine Art Leuchtturm oder Versuchslabor für Alternativen zur rein gewinnorientierten Wirtschaftsweise werden. Das Produkt bestehe aus Stoffresten und verabschiede sich von der Idee des ständig neuen Kaufens, erklärt Reuter. „Außerdem möchten wir das Schneider:innenhandwerk wieder klug und nachhaltig denken und ein Bewusstsein dafür schaffen, wie Mode anders funktionieren kann. Dabei denken wir nicht großspurig und behaupten, die Wirtschaft zu verändern. Aber ich glaube, dass es neue Ideen braucht, und deshalb gründen wir.“ Frehse sieht ihre Aufgabe als Gründerin vor allem darin, Hindernisse zum Beispiel im politischen System und Möglichkeiten für gesellschaftliche Transformation aufzuzeigen: „Wir probieren alles aus, was uns sinnvoll erscheint: das solidarische Preismodell zum Beispiel. Und bei uns gibt es keinen Höchst-, sondern einen Mindest- und Bedarfsurlaub, damit sich niemand halb krank zur Arbeit schleppt. Außerdem entscheiden wir immer im Team, Carla und ich tragen lediglich die Verantwortung.“

Als Frauenteam gründen

Bereits zu Beginn war klar, dass sie Oktopulli im Team gründen würden, so Frehse. „Eine einzelne Person kann nicht alle Blickwinkel einnehmen. Bei meiner Mutter habe ich die Arbeit und die Herausforderungen für Selbstständige erlebt. Daher war es für mich wichtig, im Team zu gründen.“ Viele Frauen entscheiden sich mittlerweile dafür. Gerade im Social Entrepreneurship nimmt die Anzahl der weiblichen Vorbilder zu, schildert Frehse. Sie hat selbst einen Gründerinnenstammtisch in Berlin ins Leben gerufen und ist begeistert von dem Austausch, der dort regelmäßig entsteht. Außerdem sei bisher die meiste Unterstützung von Frauen gekommen. „Sie fanden unsere Idee aus eigener Erfahrung heraus sinnvoll, im Gegensatz zu vielen Männern“, so Reuter. „Männer haben uns meistens nur gefragt, ob wir auch unsere Zahlen im Blick hätten.“ Weil es bei Frauen weniger Überzeugungsarbeit brauche, haben sich Reuter und Frehse für eine Fotografin, eine Steuerberaterin und eine Juristin entschieden. Aktuell, so ihre Erfahrung, haben Frauen aufgrund der Sozialisierung oft andere Aspekte im Blick als Männer. Irgendwann ändere sich das vielleicht, meint Frehse.

Forschen und Weitertragen

Nachdem sich das Team von Oktopulli anfangs vor allem auf das Produkt konzentriert hat, stehen nun andere Fragen im Fokus: „Wollen wir noch jemanden einstellen? Geht das noch weiter? Wie teuer muss das Produkt werden, damit wir uns das noch leisten können? Was heißt für uns gutes Leben?“ Frehse und Reuter bleiben ständig neugierig und forschend. Sie stellen sich viele und weitgehende Fragen zum Thema nachhaltig und sozial Gründen. Dabei ist Transparenz besonders wichtig, erklärt Reuter: „Jede:r kann unseren Gesellschaftsvertrag lesen, wir verstecken keine Zahlen und sind viel im Austausch. Wir möchten gerne weitergeben, was wir bei diesem Projekt auch zum ersten Mal lernen. Wir haben uns selbst die Möglichkeit gegeben, Dinge zu lernen, die wir in der Form an keinem anderen Ort gefunden hätten“, so Reuter. Ihre Vision, so Frehse: „Das Konzept so gut durchdenken, dass es andere Menschen in anderen Städten nachmachen können. Uns geht es darum, Visionen in den Köpfen zu kreieren. Mit einem Kinderpullover retten wir die Welt auch nicht. Aber es wäre blödsinnig, es nicht zu probieren.“ ///

Dieser Text erschien in der Septemberausgabe 2022 der Zeitschrift info3 mit dem Titelthema “Wenn der Wandel Mode wird”. Einzelheft hier bestellen.

Stichwort Verantwortungseigentum: Es handelt sich um eine neue Rechtsform, die sicherstellt, dass das Vermögen an das Unternehmen gebunden bleibt. Das erwirtschaftete Kapital steht für die Unternehmensentwicklung frei. Für das Unternehmen sind Menschen zuständig, die langfristig damit verbunden sind. Somit kann es ist kein Spekulationsgut werden. Mehr dazu hier.

Über den Autor / die Autorin

Andrea Kreisel

Andrea Kreisel hat Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke studiert und ist seit 2019 Autorin bei Info3.