Stalins Kühe. Putins Zinnsoldaten

Autorin Yaroslava Black-Terletska / Foto: privat

Von Yaroslava Black-Terletska

Vor einigen Tagen habe ich mir das Buch Stalins Kühe von Sofi Oxanen in der benachbarten Buchhandlung in Köln bestellt. Ich wollte mehr vom Schicksal der finnisch-estnischen Familien erfahren, die unter den sowjetischen Zwängen leben mussten. Die Gedanken von Sofi Oxanen haben mich aufgewühlt. Sie vergleicht die politische Unterdrückung Finnlands durch Sowjetrussland mit der individuellen pathologischen Erniedrigung eines Menschen durch einen anderen. Wenn die Unterdrückung lange genug währt, entwickelt sich eine seelische Krankheit bis dahin, dass die eigene Identität nicht mehr wahrgenommen wird. Wem solcher Schaden zugefügt wurde, der lebt in einem Zustand, den man unter dem Begriff des vorauseilenden Gehorsams kennt. So nennt man die freiwillige Vorwegnahme eines vermuteten erwünschten Verhaltens. Man hat dann kein eigenes Leben mehr, keine eigenen Gedanken, keine eigenen Wünsche. Mit dem vorauseilenden Gehorsam geht oft eine Amnesie einher. Es ist zu schmerzlich, sich an die Zeit zu erinnern, als man ein anderer, ein freier Mensch war. So glaubt eine derart misshandelte Person gerne den Geschichten des Peinigers. Sie glaubt sogar daran, dass er sie liebt und sich nur um ihr Wohl sorgt. Darum ist es so schwer, jemanden, der jahrzehntelang auf diese Weise misshandelt wurde, zu heilen. Schon in jedem einzelnen Fall ist ein solches Verhalten unakzeptabel. Übertragen aber auf eine soziale und politische Ebene ist es sehr gefährlich und hat fatale Auswirkungen.

Die Geister der Toten

Als der russische Präsident bei dem offiziellen Treffen mit dem französischen Präsidenten in Bezug auf die Bedürfnisse der Ukraine ein Liedchen aus dem Sträflingsmilieu zitierte, waren die Ukrainer alarmiert. Der russische Präsident sagte wörtlich: „Willst du, Schöne, oder nicht, ich werde dich schon gefügig machen!“ Das sind seine pathologischen Bedürfnisse: Etwas, das schön ist, sich gefügig, sich zu eigen zu machen. Mit anderen Worten: bedrängen, zwingen, unterwerfen, erobern und als selbstbestimmtes freies Wesen vernichten. Im persönlichen wie im politischen Leben gibt es für ein solches Verhalten nur eine mögliche Reaktion: Widerstand – solange der Wille nicht gebrochen ist. Und die Ukraine leistet Widerstand. Sie verteidigt sich mit allen Kräften. Allein. In der Zwischenzeit schaut die Welt zu und schließt Wetten ab, wie lange dieses seltsame Volk noch durchhalten wird.

Zwölf Tage des Krieges sind beim Schreiben dieses Textes vergangen: Städte und Dörfer sind zerbombt, Krankenhäuser, Schulen, Brücken ruiniert, Mütter tragen aus den Kellern ihre toten Kinder, alte Leute sterben in ihren Wohnungen in den belagerten Städten ohne Medikamente und Wasser, russische Panzer rollen über Zivilisten, ein Bus mit fliehenden Waisenkindern wird beschossen. Gleichzeitig wird in Deutschland für Frieden demonstriert. Man möchte „friedliche Lösungen“. Es ist aber bereits zu spät für Verhandlungen. Denn es ist unmöglich, Friedensverhandlungen zu führen, wenn dein Kopf im Rachen eines Bären steckt. Friedliche Lösungen haben wir im satten Bürgertum längst verschlafen.

Oft werde ich in Deutschland gefragt: Warum zum Teufel seid ihr Ukrainer immer so aufmüpfig und unzufrieden? Würdet Ihr Euch Russland beugen, hätten wir alle unsere Ruhe. Diese Ruhe wird es aber nicht geben. Auch nicht in den drei nächsten Generationen. Zu lange hat man zugesehen, wie sich in Russland ein Totenkult entwickelte und alles Lebendige verschlang. Lenin, Stalin, die Großväter, die im Krieg gefallen sind, sie wurden glorifiziert, aufgeblasen, zelebriert. Das größte Fest des Landes ist der 9. Mai zur Erinnerung an das Kriegsende. Da ruft das Land in kultischem Gehabe seine Soldaten, Generale und Kriegsstrategen in Erinnerung und mahnt die Lebendigen, sich den Toten in ihrem Eifer anzuschließen. Sie wurden zu einer neuen Mythologie und eroberten nach und nach die Gemüter. Es bleibt kein Platz für andere Zukunftsvisionen, abseits des Vaterländischen Krieges, abseits von Väterchen Lenin und Stalin. Die Geister der Toten regieren das Land. Sie verbreiten Angst. Indessen warten alle auf eine friedvolle Zukunft. Aber die Zukunft kann nicht kommen, solange die Toten regieren.

Dämonen der Unterdrückung

Genau wie Sofi Oxanen trage auch ich die unter die Haut gejagten Dämonen der Unterdrückung in mir. Mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in die West-Ukraine zum Ende des zweiten Weltkriegs war es zu Ende mit der großen Familie meiner Vorfahren. Der Großvater kam mit einer halben Million anderer „Staatsfeinde“ nach Sibirien, nach Kolyma in ein „Besserungsstraflager“, wo er bei arktischer Kälte fünfundzwanzig Jahre lang Uran ans Tageslicht beförderte. Seine Frau, wie so viele den „Staatsfeinden“ nahestehende Personen, fand man ermordet auf. Die Umstände wurden nie aufgeklärt. Die älteren der sieben Kinder konnten fliehen, die jüngeren, darunter auch mein Vater, wurden in einem militärisch hart geführten Kinderheim umerzogen.
Mein Vater konnte weder fliehen, dafür war er zu jung, noch sich freiwillig der „glücklichen kommunistischen Zukunft“ anschließen, dafür war er zu alt. Mit siebzehn durfte er das Waisen-Internat verlassen: mit einem krummen Tattoo auf Russisch auf seinem Bein, auf dem geschrieben stand Es gibt kein Glück im Leben. Ihm fehlten zwei Finger, das linke Auge und er hatte einige gebrochene Knochen. Das waren die äußeren Schäden der Umerziehung. Von den inneren sprach er nicht mal, wenn er betrunken war.

Menschen mit Mission

Stalins ethnische Säuberungen waren Zwangsdeportationen von bestimmten Volksgruppen in fernerliegende Gebiete der Sowjetunion, meistens nach Sibirien, oder wie im Falle der Krim-Tataren auch nach Usbekistan. Diese Völker seien dem Regime nicht „vertrauenswürdig“, hieß es in der Propaganda. Das betraf jedes Land der neu ernannten fünfzehn Republiken der Sowjetunion, doch einige traf es so hart, dass sie als Volk auf ein erschreckendes Maß schrumpften. Von einer Million Krim-Tataren, den Bewohnern der Halbinsel Krim, überlebten nur knapp dreihunderttausend die Deportation in Viehwagen. In Lettland, Litauen, Georgien und in der Ukraine war es nicht besser. In die freigeräumten Häuser siedelte man dem Staat treu ergebene Russen an. Sie bekamen Posten und eine Mission. Nur Russen durften an den Universitäten unterrichten oder Direktoren an den Schulen werden. Sie kamen mit ihrer Mission in die entferntesten Ecken und fühlten sich zu Größerem berufen. So wurde über kurz oder lang etwa in Lettland ein Drittel der Bevölkerung – russisch.

Meine Klassenlehrerin war eine solche ernste Missionarin aus Sibirien. Sie hatte das Pech, in ein kleines Provinzstädtchen der West-Ukraine entsandt zu werden und nicht irgendwohin nach Riga oder Vilnius. Hier bei uns sprach man kein Russisch, nicht zu Kaiserzeiten in der K.u.K.-Monarchie, nicht zu ihrer Zeit und auch heute nicht. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab meine Klassenlehrerin auf, sie lernte sehr schnell die früher verhasste Sprache und stickte sich ein ukrainisches Hemd für die Feiertage. Viele in den östlich gelegenen Großstädten sprachen weiterhin Russisch. Niemand hinderte sie daran. Als die Letten im Zuge des Aufbaus ihres eigenen Landes die angesiedelten Russen als große Gefahr zu sehen begannen und darum schnell ein paar Gesetze verfassten, lächelten die Ukrainer gutmütig: Es wird sich schon von alleine lösen. Damals schon warnten die Baltischen Länder: Russland als Erbin der Sowjetmacht wird immer den Anspruch erheben, dort regieren zu wollen, wo man russisch spricht. Die ganze Maschinerie der Umsiedelung, Vermischung und Spaltung kann nicht an einem Tag zerfallen. Die Umerziehung im großen sowjetischen Besserungsstraflager, in dem wir alle lebten, war für viele Menschen Teil ihrer Identität geworden. Eine andere hatten sie nicht. Ich habe das Glück, in meiner Erinnerung andere Geschichten zu tragen. Meine Topographie spricht eine andere Sprache.

Wir haben alle so schön gelernt: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich fürchte, das ist ein Irrtum. Es gibt Zeiten und Räume, welche die Wahrheit deutlicher erscheinen lassen als andere: Wesentlich sind die Biographie und die Topographie. Die Biographie eines Menschen ist wahr, so wie sie ist. Sie kann kurz oder lang sein, schwer oder leicht. Es kann ein Leben sein, dem Ungerechtigkeit widerfuhr oder eines, das Ungerechtigkeit ausübte. Die Topographie zeigt genaue Linien einer Landschaft, Flüsse mit ihren Biegungen, Berge mit ihren Gipfeln und Halbinseln, die in das Meer stechen. Wir können sie bemessen und aufzeichnen, und wir können sie auch erwandern. Die Beschäftigung mit der Topographie ist nützlich und macht uns klüger. Erst durch die Erwanderung von bestimmten Landschaften erfahren wir ihr wahres Wesen. Der Fluss täuscht nicht. Er ist wahr. Der Berg lügt nicht. Er ist da. Nicht rechts, nicht links, auch nicht schön mittig, sondern da, wo er sich gerade befindet, ob es jemandem gefällt oder nicht. In Zeiten des Krieges liegt die Wahrheit auch nicht irgendwo in der Mitte. Sie wird sichtbar dort, wo man sie verletzt.

Krieg gegen die Zukunft

Warum führt die russische Regierung Krieg gegen die Ukraine? Es gibt aus dem russischen Totenwinkel heraus einige Gründe dafür. Einen davon nannte kürzlich am zurückliegenden „Vergebungs-Sonntag“ der Patriarch Kyrill von Moskau in der Kirche. So predigte er: „Vergeben kann man nur das Gerechte. Das Ungerechte darf man nicht vergeben. Vergebung ohne Gerechtigkeit ist Kapitulation und Schwäche!“ Vieles hat er da gesagt, was wie von einem General gesprochen wirkte. Am Ende meinte er: „Dieser Krieg gegen die Ukraine hat für uns alle einen metaphysischen Sinn.“ In die allgemeinverständliche Sprache übersetzt: Wir haben eine geistige Weltmission. Wir führen einen geistigen Kampf. Um diese Mission zu erfüllen brauchen wir die Ukraine, am besten lebendig, zur Not aber auch tot. Wenn wir die Ukraine mit dem Wasser des Lebens nicht kriegen, dann soll sie keiner bekommen. – Einen anderen Grund erklären Stalins Kühe: Es ist der Genuss an der Unterdrückung eines freien (Staats-)Wesens. Mit solchen Methoden verschafft man sich Respekt im Knast. Eroberungszüge konnte man vielleicht noch im 18. oder 19. Jahrhundert billigen. Aber dieses Verhalten hat in unserem Jahrhundert nichts mehr zu suchen. Dieser Krieg gehört nicht in unsere Zeit. Es ist ein Krieg aus der Vergangenheit gegen die Zukunft.

Putin ist nicht verrückt. Er ist durch von ihm selbst aufgeweckte Dämonen aus längst vergangenen Zeiten entrückt worden auf eine pseudo-metaphysische Ebene. Er hat geistige Hintergründe für seinen Krieg. Die angebliche Bedrohung durch die Nato ist nur ein lächerlicher Vorwand für Materialisten.

„Werden Sie jetzt alle Russen hassen?“ Diese Frage stellten deutsche Medien dem Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko. „Alle hassen?“, fragte er zurück. „Aber warum soll ich alle Russen hassen? Meine Mutter ist eine Russin. Wie kann ich Russen hassen? Nein. Aber wir hassen die Politik, die in diesem Land brutal betrieben wird. Das sind zwei verschiedene Sachen.“ Vitali, der jetzt selber auf den Straßen von Kiew Wache steht, meinte: „Es ist bei uns nicht eine Frage der Nationalität oder der Sprache. Es ist eine Frage der Werte.“

Neue Legenden

Jeden Tag lese ich, dass meine Freunde sterben, friedliche Menschen: Lehrer, Schauspieler, Schriftsteller, Sänger, Sportler, Männer und Frauen, Juden, Christen, Moslems, junge und alte. Einige sterben, weil sie den Hungernden Brot brachten, andere, weil sie krebskranke Kinder aus dem zerbombten Krankenhaus retteten, die dritten, weil sie sich ohne Waffen in einer besetzten Stadt vor die russischen Panzer stellten. Ja, die Ukrainer werden kämpfen: mit und ohne Waffen. Sie singen ihre Kosakenlieder, oder die des großen Anarchisten Nestor Machno, oder Lieder der Widerstands-Armee gegen die Sowjets, die ich von meinem Großvater hörte. In diesem Land kämpft jeder: die Großmutter, die von ihrem Balkon auf die fliegende feindliche Drohne mit einem Glas eingemachter Gurken wirft (und trifft); die Obdachlosen, die Molotow-Cocktails in Flaschen füllen; die Roma-Bürger, die russische Panzer klauen. Ihrem Beispiel folgen Bauern mit ihren Traktoren, Frauen verdreschen mit ihren Einkaufstaschen zwei russische Soldaten, Malerinnen flechten lange Tarnnetze, Hacker legen das russische Regierungsnetz lahm, Dorfbewohner stellen sich unbewaffnet vor Panzerkolonnen, Frauen aus Konotop (in Gogols Geschichten der gefürchtete Ort der Hexen) treten vor die Panzer und verfluchen die Eindringlinge, so dass sie nicht mehr vorwärtskommen. Die Schlangeninsel im Schwarzen Meer wird von 13 Soldaten verteidigt, die Straßenschilder in den Grenzgebieten werden über die Nacht ausgewechselt und mit dem Schriftzug versehen: Fahrt zu Hölle. Aus diesen und anderen Geschichten werden neue Mythen und neue Legenden entstehen.

Eines Tages, so hoffe ich, werden wir keine Grenze mehr brauchen, weil es niemanden geben wird, der sie verletzt. Die heutige Wirklichkeit ist aber eine andere. Vor unseren Augen liegt großer Schmerz, Ungerechtigkeit, Leid. Das ist die Welten-Aufgabe in diesen Tagen: Mitfühlen mit dem Schmerz des Anderen, auch wenn es ein noch so geringer Bruder oder eine geringe Schwester sei! Jetzt ist nicht die richtige Zeit um Schuldzuweisungen auszufechten, auch nicht um festsitzende Überzeugungen auszutauschen. Das kann man später wieder tun. Was jetzt hilft, ist Menschlichkeit. Die Zukunft wird aus Menschlichkeit gebaut, oder wir werden keine haben.

Und was wird wohl aus der großen russischen Idee, die in den vielen Köpfen mancher meiner Freunde lebt?  Sie muss durch die Verwandlung durch. Sie muss destilliert werden: Schadstoffe fallen zu Boden, das Reine verflüchtigt sich, wird abgekühlt und bildet neue Wassertropfen. Sie muss durch eine Metamorphose, sonst wird sie zu einem kleinen rostigen Kästchen schrumpfen. Und am letzten Tag dieses Krieges fällt sie dann, mit dem Lieblingsspielzeug aus der fernen Kindheit gefüllt, zu Boden. Lange hütete man es wie einen Schatz. Man erzählte, wie eigenartig und kostbar der Inhalt sei. Doch an diesem letzten Tage des Krieges fällt das Kästchen zu Boden und zerbricht. Und siehe da: Da gibt es gar nichts Besonderes. Auf den Boden purzelt ein Zinnsoldat mit gebrochenem Bein, ein paar glitzernde Bonbon-Papierchen „von Krasnaja Moskwa“ und der Gummifetzen eines alten Luftballons. ///

Dieser Text erschien in der April 2022-Ausgabe der Zeitschrift info3 zum Thema:
Krieg in Europa. Hier das Einzelheft bestellen.

Yaroslava Black-Terletska stammt aus der Ukraine. Aufgewachsen in Galizien – dem grünen Vorland der Karpaten – studierte sie in Czernowitz Germanistik und Philosophie. In Deutschland und in der Ukraine hat sie Lyrik, Erzählungen und Essays veröffentlicht und übersetzt. Sie ist auch Kinderbuchautorin. Seit 2005 ist Yaroslava Pfarrerin der „Christengemeinschaft“, sie lebt mit ihrem Mann in Köln.

Über den Autor / die Autorin

Gastautor