Artikel Juli/August 2018 Zeitschrift Info3

Auf dem Weg zu einem anthroposophischen Zen

Auf dem Weg zu einem anthroposophischen Zen? © Info3 Verlag 2018
Auf dem Weg zu einem anthroposophischen Zen? © Info3 Verlag 2018

Jörn Heinlein gehört zu den wenigen Anthroposophen, die sich aktiv mit Zen beschäftigen. Im Gespräch mit Ronald Richter erklärt er, wie beide Richtungen sich ergänzen.

Jörn Heinlein, versuchen Sie uns doch einmal ganz kurz zu erklären, was Zen eigentlich ist.

Zen, als japanischer Begriff, heißt Konzentration oder geistige Sammlung. Zen als Praxis wird meist in Verbindung mit dem Wörtchen „Za“ – Sitzen – verstanden und bedeutet dann als „Zazen“ soviel wie „geistige Sammlung in sitzender Haltung“. Als solches gesehen, macht das natürlich nicht viel her.

Sie haben in der Vierteljahresschrift „Anthroposophie“ einen Artikel über „Anthroposophie und Zen“ veröffentlicht. Darin beschreiben Sie, dass Sie schon lange neben Ihren anthroposophischen Studien die Praktiken des Zen-Buddhismus ausüben. Bei mir kam die Zen-Praxis vor der Anthroposophie, die sich für mich zwar mühelos mit dem Zen verbindet. Doch ich stehe damit auf beiden Seiten recht einsam da. Wie passt das für Sie zusammen?

Mir geht es genauso. In den 1980er Jahren habe ich ziemlich intensiv Zen – „das stille Sitzen“ – praktiziert, zugleich war ich auch gelegentlich im Hamburger Rudolf Steiner Haus oder auf anthroposophischen Tagungen. Beides hatte im Äußeren gar keine, im Inneren aber noch wenig Berührungspunkte. Seit gut zehn Jahren betreibe ich Bildekräfte-Forschung. Da kommt für mich persönlich das Denken im anthroposophischen Universalgebäude mit dem intimen Spüren, wie ich es aus der Zen Meditation kenne, zusammen. Neuerdings wird diese Brücke für mich immer breiter. Leider sehe ich das nicht für die Menschen in den beiden Gemeinschaften: Sie würden nicht glauben, auf was für taube Ohren ich stoße, wenn ich bei meinen Zen-Freunden das Thema Rudolf Steiner anschneide – keine Chance. Umgekehrt scheinen auch nur sehr wenige Anthroposophen begriffen zu haben, dass es einen Wert haben könnte, als geistige Übung mal 30 Minuten die gesamte anthroposophische Vorstellungswelt an den Nagel zu hängen.

Die tauben Ohren stellen sich bei mir im freundlichen Nicken des Gegenübers dar. Höchstens mal was Abfälliges der Zen-Leute über anthroposophische Engelshierarchien. Wir wissen, dass es recht widersprüchliche Äußerungen Steiners über den Buddhismus gibt. Wie gelingt es Ihnen, den Buddhismus als etwas genuin Positives für die Anthroposophie zu charakterisieren?

Also, wir können Buddhismus studieren und zum Buddhologen werden, genauso können wir Anthroposophie studieren. Aber die meisten Anthroposophen haben doch den Wunsch, tiefer einzusteigen. Und da haben wir von Steiner all diese vielen Vorschläge, wie zu beginnen. Trotzdem gehen diese Vorschläge an uns irgendwie vorbei. Wir kommen doch schwer in eine Praxis jenseits des Lesens. Und so ist das Bedauerliche: Unter uns Anthroposophen wird zu wenig geübt. Wozu auch? Rudolf Steiner hat uns doch alles so schön dargelegt. Wir glauben schon alles zu kennen. Er erklärt uns genau, wie 3 plus 3 gleich 6 ist. Aber er fragt uns nie, wie viel 2 plus 2 ist. Und da scheitern wir dann.

Überspitzt formuliert.

Ja, überspitzt formuliert. Im Zen bekommt man nichts gesagt. Man wird in eine Situation gebracht, die körperlich schwierig und mental völlig unstrukturiert ist. Man muss selbst sehen, wie man damit zurechtkommt. Das ist die perfekte Ergänzung zur Anthroposophie. Hätte ich die Anthroposophie nicht gehabt, hätte ich meinen Zen auch aufgegeben. Und heute sehe ich, wie mir die Zen-Erfahrung fundamental die Anthroposophie erschließt. Steiner fordert von uns: Übe mit Mühe! Das ist, was wir im Zen tun, in der denkbar einfachsten Art.

Bei mir ist das stille Nicht-Wissen ein steter Neubeginn, der Nullpunkt, von dem ich auf Geist und Welt zugreifen kann; alles wird möglich; alles, unter dem ich täglich leide, fällt von mir ab. Aber wenn ich mir so etwas vornehme, bleibt es dürres Konzept. Noch einmal zu Ihrem Text. Darin sprechen Sie vom „Zen-Buddhismus“, als sei diese Zusammensetzung eine unlösbare Einheit. Vom japanischen Zen-Erneuerer Kodo Sawaki (1880–1965) stammt jedoch die Aussage, dass Zen als ethische und konkrete Praxis nicht Privileg des Buddhismus bleiben dürfe. Wäre das nicht ein interessanter Ansatz?

Dass Zen darauf angelegt ist, besonders ins Ethische zu wirken, habe ich eigentlich nicht festgestellt. Er enthält dabei noch zu viel wesenhaft Japanisches, was wir als Übende auch aussortieren müssen. Das Gute ist tatsächlich die konkrete Praxis, die so intensiv sein kann, dass sie einen an den Rand bringt. Das ist ein besonderer Wert! Die Übung ist geregelt und getaktet und transparent.

Wo genau ist die Übung transparent?

Mit transparent meine ich, dass die Übung genau deinen Zustand reflektiert. Der kann hellwach, weit und klar oder mühselig gegen Schläfrigkeit ankämpfend sein. Jedenfalls kein Hoffen oder Harren auf etwas, von dem man wünscht, dass es irgendwann später eintreten möge.

Kann Zen nicht auch ohne Buddhismus praktiziert werden, so wie ja auch eine ausgeprägte Linie des christlichen Zen existiert? Gerade heraus gefragt: Könnten Sie sich ein anthroposophisches Zen vorstellen?

Zen ist in China entstanden und die Chinesen sind immer ein völlig eigener Kulturkreis gewesen. Die hätten sich nie buddhistisch missionieren lassen. Sie denken auch völlig anders als die Inder. Chinesen haben das buddhistische Thema aufgegriffen, weil sie es interessant fanden, und dann mit ihrem heimischen Taoismus, dem Erleuchtung ja auch nicht fremd war, aufgemischt. Daraus ist Zen, oder wie es in China heißt, „Chan“, erwachsen. Das „Buddhistische“ ist nur ein Aufhänger gewesen. Sie können das an den Koans, diesen absolut unvergleichlichen Wortgefechten zwischen Meistern und Schülern genau feststellen. Der Buddha ist da nur eine Art Schachfigur, mit dem raffiniert operiert wird, kein Objekt inbrünstiger Anbetung oder Verehrung.

Warum sollte die Zen Assimilation bei uns anders funktionieren? Wir müssen uns nicht nach Zen-Art japanisieren lassen. Wir gucken uns das genau an und übernehmen, was uns besticht. Nur wenn es sich mit unserem kultur-spiritualen Erbe verbinden lässt, kann es fruchtbar werden.

Ähnliches findet gegenwärtig hoffentlich auch im christlichen Zen statt. Ich habe intensive Zen-Retreats bei einer protestantischen Pfarrerin und einem jesuitischen Priester gesessen, beides langjährige ordinierte Zenmeister, also in beiden Bereichen echte Experten. Leider konnte ich dort kein Zen finden, das den Namen „Christliches Zen“ verdient hätte, was für mich eine verpasste Chance ist. Oder lag es daran, dass die Strukturen, in denen sich die beiden bewegen, tatsächlich eher säkular sind? Deswegen ist für mich auch ein anthroposophischer Zen viel naheliegender.

Zen hat noch eine Dimension, die oft nicht gesehen wird. Was nämlich als das „stille Sitzen“ so harmlos daherkommt, ist ja nicht nur eine momentane Konzentrations-Anspannung und ein gutes seelisches Beisammensein. Es ist ein psycho-energetischer Status, den man sich erwirbt. Und in diesem stimulierten Zustand sich vorsichtig an anthroposophisches Gedankengut heranzutasten, das könnte großartig sein. Im Grundsteinspruch heißt es: „Übe Geist-Erinnern … Übe Geist-Besinnen …“. So sprechen wir, und nichts wandelt sich. Warum? Weil wir nicht in einer energiegeladenen Seelenverfassung sind, in der Geist-Erkenntnis möglich wäre. Wir müssen uns erst einmal fit machen, damit wir überhaupt ein Gefäß für die Mantren werden können. Das kann durch Zen geschehen. So etwas wäre allerdings noch „Anthroposophie plus Zen“, noch kein anthroposophisches Zen. Vielleicht wäre das eine Idee: In der Anthroposophie ist ja dieser Denk-Impuls so wichtig. Und da finde ich die Idee des Rhythmisierens des Denkens gut. Also sich in einen Gedanken vertiefen, dann den Gedanken wegschieben, aber vollständig, ihn dann wieder aufrufen, und wieder wegschieben. Also zwischen den Gedanken den blanken Geist tasten, das müsste eine enorme Wirkung haben. Gern im Stil einer sitzenden Meditationskultur.

Und wie ginge das dann weiter?

Na ja, es ist ganz klar, dass sich so etwas erst entwickeln müsste, keiner kann das vorhersehen. So wie es verschiedene Formen des Zen gibt, nämlich das Zen, das die Gedankenbildung in den Griff nimmt und das Zen, das in der Konzentration konkrete, das heißt ausformulierte Probleme zu lösen beabsichtigt. Im ersten könnten wir den gedankenoffenen Bewusstseinszustand trainieren, im zweiten könnten zum Beispiel Inhalte aus Steiners Anweisungen für eine esoterische Schulung in ein tiefes Erlebnis gebracht werden.

Ich stelle mir oft die Frage, wie das aussähe – sitzen wir im Lotus Sitz? Das christliche Zen hat ja den Unterschied zum Japanischen, dass nicht auf Kissen, sondern auf Holzbänken gesessen wird. Wie sähe das beim anthroposophischen Zen aus? Im radikalen Fall könnte auch aufrecht gestanden werden wie in alten Qi Gong-Übungen oder um Maitreya, den stehenden Buddha der Zukunft, vorwegzunehmen. Die Zen-Sutren sind allesamt Mantren. Was läge da näher, als auch anthroposophische Mantren zu nutzen? Die Abendmeditation könnte mit einer innerlichen Rückschau wie von Steiner angeregt beendet werden und so weiter. Was meinen Sie?

Ja, das wäre natürlich ideal. Gerade die abendliche Rückschau ist prima geeignet. Wir kennen ja die Probleme damit: Oft schlafen wir darüber ein oder wenn wir uns sehr bemühen, können wir hinterher nicht mehr schlafen. Ob man die Übung nun auf Holzbänkchen oder sonst irgendwo macht, ist egal. Hauptsache der Rücken ist gerade, die Atmung stimmt und man versackt nicht Gedankenträumerei. ///

 

Über den Autor / die Autorin

Ronald Richter

Ronald Richter † (18.5.1954 - 18.1.2020) war ständiger Mitarbeiter von Info3, freier Autor und betrieb von Berlin aus das "Kult.Radio" auf www.kultradio.eu