Aufgeheizt und ausgereizt: die Ökodiktatur

Kaum ein Reizwort vermag derart viel Ressentiment zu schüren wie die Rede von der „Ökodiktatur“. Es ist an der Zeit, den Begriff seiner polemischen Schichten zu entkleiden und das dahinterstehende Phänomen nüchtern aus der Vogelperspektive zu betrachten – solange imaginäres Fliegen noch erlaubt ist!

Im Jahr 2011 konstatierte Bernhard Pötter in der taz: „Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Ökodiktatur.“ Die Angst vor einschneidenden politischen Maßnahmen und Bevormundung mit ökologischer Begründung war für Pötter „ein Zombie“, eigentlich „nur ein Popanz der Anti-Ökos ohne Substanz, Theorie oder Verankerung. Niemand will sie, nur für ihre Gegner ist sie sehr praktisch.“ Schon 1993 veröffentlichte Dirk C. Fleck einen Roman mit dem Titel GO! Die Ökodiktatur, in der ein totalitäres System unter ökologischem Vorwand die Menschen unterdrückt.

Jetzt, 30 Jahre später, hat sich das Debattenklima noch einmal deutlich aufgeheizt. Die ökologische Situation hat sich darüber nicht verbessert, die Regierungen kommen ihren halbherzig beschlossenen Klimazielen nicht nach, politische Schildbürgerstreiche der Grünen wie die AKW-Laufzeit, die Gasumlage oder die Heizungsreform lösen mehr und mehr Kopfschütteln bei weiten Teilen der Bevölkerung aus. Und nicht zuletzt sehen sich im öffentlichen Diskurs radikalisierte Gruppen wie Extinction Rebellion, Fridays for Future und Letzte Generation einer populistischen konservativen Fraktion von Wut- und Hubraum-Bürger:innen gegenüber.

Auf allen Seiten des Spektrums ist man pessimistisch geworden: Auf die Forsa-Frage: „Glauben Sie, dass Deutschland in absehbarer Zeit seine Energie zu einhundert Prozent aus Erneuerbaren beziehen kann?“ antworteten 2011 noch 39 Prozent mit Ja, 61 Prozent mit Nein, im Jahr 2023 hingegen nur noch zehn Prozent mit Ja und 88 Prozent mit Nein. Und überhaupt schwebt eine Endzeitstimmung über dem Diskurs ums Klima, die Letzte Generation steht mit dem Namen dafür und auch Annalena Baerbock ließ verlauten, jetzt sei die letzte Kanzlerschaft, die das Ruder noch rumreißen könnte. Aus der Angst heraus, selbst auszusterben, verfällt ein Teil der Menschheit immer mehr dem Exterminismus: Für sie muss, ähnlich wie bei Zero Covid, alles Klimaschädliche ausgerottet werden. Im Interview-Format Jung und Naiv erklärt die Energie-Ökonomin Claudia Kemfert: „Ich wäre dafür, dass wir uns einigen, dass wir das fossile Kapital auslöschen. Das muss weg!“ Es gehe um die zerstörerischen fossilen Kapitalströme und darum, „die Hydra auszurotten”. Diesen Gestus riechen die Gegner:innen einer einschneidenden Ökopolitik, befürchten sie doch, dass diesem exterministischen Gestus neben fossilen Energiequellen auch Flugreisen, Fleischverzehr, Automobile oder gar „alte weiße Männer“ selbst zum Opfer fallen werden. In der Regel begegnen die Befürworter:innen der stark regulierenden Umweltpolitik den Ängsten vor der Ökodiktatur mit purer Ablehnung, so eine Politik habe niemand im Sinn. Anders Jürgen Schiebert in der Berliner Zeitung in seinem Artikel „Um die Hölle zu verhindern, brauchen wir eine Ökodiktatur“, in dem er auf die Frage „Wer hat den Mut und die Macht, die Menschen zu einem klimagerechten Handeln zu zwingen?“  antwortet: „Es geht nur sofort und es geht wohl nur mit Zwang“. Ohne Ironie spricht er sich für eine Öko-Weltregierung aus: „Für einen solchen umfassenden Systemwandel wäre ein Weltklimarat mit globalen Vollmachten erforderlich, der allen Regierungen gegenüber weisungsberechtigt und sanktionsfähig sein müsste: eine Ökodiktatur.“

Zwischen Ersatzreligion und ökologischem Inferno

Derartige Einlassungen bleiben nicht ohne Widerspruch. Schon längst hat sich eine große Gegenöffentlichkeit versammelt, die voller Häme und Ressentiment die klimapolitischen Bestrebungen als Farce abtut. Intelligente und besonnene Stimmen findet man inmitten der Polarisierung selten. Ex-Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust äußerte kürzlich über die Klimapolitik von Ampel und CDU: „Weil man das Klima zum überragenden Thema überhaupt gemacht hat, kann man ja nicht so ohne weiteres davon wieder jetzt zurückrücken. Aber es wird der Moment kommen, wo man die Realität wieder zur Kenntnis nehmen muss und sehen muss, dass diese Politik nicht funktioniert.“ Etwas weniger fatalistisch, aber mit deutlich mehr Weitblick kritisiert der Medienwissenschafter Norbert Bolz „das Umschlagen des ökologischen Problembewusstseins in eine kollektive Angstreligion, die die Furcht vor dem Herrn durch die Furcht vor dem Menschen und seinem Handeln ersetzt hat.“ Er kritisiert den exterministischen Gestus und die Ersetzung von nüchternem Denken und Handeln durch alarmistischen Aktionismus und Emotion statt Vernunft: „Wer etwa über den Klimawandel ohne Anzeichen des Entsetzens spricht, wird als Zyniker behandelt … Angst ersetzt die Vernunft.“ Dergestalt geißelt er die rezenten Auswüchse der Klimapolitik als anti-aufklärerisch und antidemokratisch – wenn die Wahrheit feststünde, werde jedes vorsprachliche Mittel zu ihrer Durchsetzung billig. Den Protestierenden von Fridays for Future und der Letzten Generation spricht er die Authentizität ab und attestiert der ganzen ökologischen Bewegung eine „Kollektivneurose“: „Die Schuld der westlichen Welt ist die Erbsünde, an die die Öko-Aktivisten glauben. Da sie aber auch nicht an eine Erlösung glauben, verwandeln sie das ganze Leben in ein einziges Bußritual.“ Soweit muss man nicht gehen, aber es ist erstaunlich zu beobachten, wie leicht und geschmeidig die Narrative rund um die „Ökodiktatur“ einrasten und in Sekundenbruchteilen die Fronten klar scheinen.

Egodiktatur des Vulgär-Liberalismus

Mit einem Mitarbeiter aus dem Umweltbundesamt spreche ich über den Kampfbegriff der Ökodiktatur. Er ist Befürworter einer „starken Umweltpolitik“, die durch Eingriffe reguliert, da nur so wirksame Hebel in Bewegung versetzt werden könnten. Außerdem habe es in der Bundesrepublik schon immer freiheitsbeschneidende Maßnahmen gegeben, die aber diskret kommuniziert worden wären. Erst jetzt habe man das Augenmerk verstärkt darauf gerichtet, obwohl es schon immer stattgefunden habe. Ihm gehe es nicht so sehr um den Diskurs und welche Possen sich dort abspielten, sondern um die wissenschaftlich verbriefte Faktenlage und die realen Auswirkungen des Klimawandels. Auf dem Boden dieser Nüchternheit seien politische Eingriffe sinnvoll. Adepten von Bolz und Co. wirft er vor, einem falsch verstandenen Liberalismus aufzusitzen. Wer keinerlei Einschränkung und Verbote hinnehmen wolle, egal ob die Begründungen ökologischer oder anderer Natur seien, verstehe nichts von Freiheit und Liberalismus, sondern drücke nur sein Ego durch. Etwas salopp ließe sich hier, als einem Pendent zur Öko- von einer Egodiktatur sprechen.

Falsch verstandener Liberalismus resultiert in Egodiktatur, wohingegen rigoristisch verstandener Ökologismus in eine Ökodiktatur mündet. Die Ressentiments vieler wütender Bürger:innen gegenüber ökologischer Politik sind genauso infantil wie der von Norbert Bolz behauptete „Gretakult“ auf der anderen Seite. Viele fühlen sich um ihre Lebensleistung gebracht, ängstigen sich, den Anschluss zu verpassen oder gar grundfalsch zu sein, gecancelt und „ausgerottet“ zu werden. So unreif, so nachvollziehbar, denn das Totschlagargument, niemand wolle eine Ökodiktatur, umschifft geschickt die wirklich kniffligen Punkte: Wie sich schon in der Corona-Zeit eindrücklich zeigte, braucht ein Zwang nicht diktatorisch verordnet zu sein, um zu wirken. Die Impfkampagne und daran gekoppelte 2G- und andere Regeln zeigten, mit welcher Scheinheiligkeit die vermeintliche Abwesenheit von Zwang von den Verantwortlichen vor sich hergetragen wurde, obwohl der Preis für eine Nicht-Befolgung der „Empfehlungen“ der Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft war. Es muss kein ökologischer Charlie Chaplin als großer Diktator auf den Plan treten oder ein mit Polizeigewalt durchgesetzter Zwang bestehen, um wirksame Bevölkerungssteuerung zu bewirken – und das wissen auch die Gegner der Ökodiktatur.

Integrale Ökologie statt Schwarz-Weiß

Wir müssen unser Leben ändern, soviel ist klar, aber anders und tiefgreifender als es sich beide Lager denken. Ein stumpfer Liberalismus kann ebensowenig die Lösung sein wie die aktuell bestehende Klimapolitik. Wie tief und nachhaltig letztere wirken könnte, lohnt einmal der Aufschlüsselung. Statt ausschließlich an äußeren Instrumenten der Symptombekämpfung herumzudoktern (CO2-Werte, Energieträger, Heizungsregelungen, Windparks), wäre eine integrale Ausrichtung wünschenswert. Neben unbedingt notwendigen Interventionen auf strukturell-politischer Ebene wäre eine Förderung kleinerer autonomer Strukturen vonnöten, sowie eine Förderung der inneren Entwicklung, wie sie zum Beispiel durch die „Inner Development Goals“ nahegelegt wird. Permakulturgärten und solidarische Landwirtschaften wären ebenso wichtig wie sinnvolle staatliche Eingriffe (die ich mir hier nicht anmaße zu benennen). Die Entwicklung innerer Resilienz des Einzelnen gehört genauso dazu wie eine strukturelle Entlastung des Debattenklimas. Klima- und Energiepolitik, Permakultur, Tiefenökologie vermögen erst in einer besonnenen und bewusst gestalteten Einheit langfristig wirkungsvoll zu sein. Einer, der bereits vor einigen Jahrzehnten eine solche ökologische Transformation vorausgedacht hat, war der ökologische Philosoph Rudolf Bahro. Er schrieb in Die Logik der Rettung: „Wahrhaft ökologische Politik geht den indirekten Weg, der in Wahrheit viel direkter ist, weil die Psyche die Quelle der sozialen Übel ist … worauf es wirklich ankommt: wirkliche Begegnung mit anderen, Freundschaft und Liebe, Schönheit und Ordnung eines Milieus, Weisheit und Kultur im Umgang mit Konflikten.“ Heute geht wohl am ehesten der US-amerikanische Philosoph Charles Eisenstein in diese Richtung. Gerade in Grenzsituationen rächt es sich, Vernunft und kulturellen Anspruch der Liebäugelei mit Ausnahmezuständen zu opfern. Die einzig aussichtsreiche Strategie zu einer ökologischen und bewussten Tiefentransformation ist ein Weg der Besonnenheit und Wertschätzung, oder wie es Antje von Dewitz (CEO der nachhaltigen Sportartikelmarke Vaude) sagt: „Nachhaltigkeit funktioniert nur über Kompromisse. Man kommt nicht weiter mit Radikalität. Es gibt kein Schwarz-Weiß – du musst um die beste graue Lösung kämpfen.“ ///

Ein Text aus der Ausgabe Mai 2023 der Zeitschrift info3

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Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.