Sikkim – das Bio-Wunderland in Indien

Bio-Gemüse aus dem indischen Bundesstaat Sikkim. Foto: Bernward Geier / Info3

Bernward Geier engagiert sich seit über 45 Jahren für eine ökologische Agrarwende. Zwischen dem eigenen Zuhause auf einem Biohof und vielen Reisen arbeitet er für sein Herzensanliegen: Biolandbau überall. Vor kurzem hat er den kleinen indischen Bundesstaat Sikkim kennengelernt, der zu hundert Prozent auf Bio umgestellt hat. Wir haben nachgefragt, was wir von diesem Beispiel lernen können.

Bernward Geier, bei einem Kolloquium haben Sie neulich die Runde mit einer Frage aufgeweckt, die lautete: „Wer glaubt daran, dass die Welt 2050 pestizidfrei und hundert Prozent Bio sein wird?“. Sie selbst zeigen sich davon voll überzeugt. Haben Sie keine Zweifel?

Es gibt mittlerweile eine Reihe von Indikatoren, die das Ziel realistisch erscheinen lassen. Ich meine auch, dass uns gar keine andere Wahl bleibt, wenn wir 2050 für unsere Enkelkinder noch eine halbwegs intakte Welt haben wollen.

Was können solche Indikatoren sein?

Ein bestes Beispiel ist der indische Bio-Bundesstaat Sikkim, den ich gerne als das Saarland Indiens bezeichne. Es zeigt uns, dass 70.000 Bäuerinnen und Bauern auch wirtschaftlich erfolgreich komplett auf Bio umstellen können. Das wurde vor allem durch politische Regulierung und einen visionären, mutigen Ministerpräsidenten möglich. Diesem Vorbild folgen nun auch andere indische Bundesstaaten, wie zum Beispiel Utarkhand, der sich das Ziel gesetzt hat, alle 1,6 Millionen bäuerliche Familienbetriebe auf Bio umzustellen. Auch der Bundesstaat Andhra Pradesh arbeitet daran. Dort gibt es sechs Millionen bäuerliche Betriebe. Aber auch in Europa sind wir auf einem guten Weg, Österreich nähert sich den 30 Prozent Biolandbau. Es gibt Regionen wie Graubünden, die schon bei 60 Prozent sind. Und ganz aktuell hat der Landeshauptmann im österreichischen Burgenland das Hundert-Prozent-Bio-Ziel verkündet, für das schon ein Strategieplan ausgearbeitet wird.

Warum funktioniert das in Deutschland momentan noch nicht und warum ist die Politik so langsam?

Schon 2001 hatte Renate Künast als Ministerin das 20 Prozent Bio-Ziel bis 2010 gesteckt, davon sind wir heute aber immer noch weit entfernt. Das kommt eben nicht von alleine, man muss was dafür tun. Nach wie vor werden zu viele Haushaltsmittel aus dem Agrar-Etat für eine chemieorientierte und agrarindustrielle Landwirtschaft ausgegeben. Für Bio stehen gerade mal 0,5 Prozent zur Verfügung. Der politische Wille und die Rahmenbedingungen fehlen. Auch von der anstehenden Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik auf EU-Ebene gehen wohl leider keine Impulse aus. Es wird viel angekündigt und nichts gemacht. Unsere Agrarpolitik ist noch immer eine willige Gehilfin des unheilvollen Bündnisses des Bauernverbands mit der Agrarchemie.

Welche Schritte müsste die Politik jetzt unternehmen?

Eine Entwicklung zu einem rasanten Weiterwachsen des biologischen Landbaus braucht entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen. Wir haben mit der EU-Gesetzgebung zu biologischem Landbau eine gute Gesetzgebung zur Hand, um die Integrität des biologischen Landbaus vor Missbrauch zu schützen. Jetzt geht es darum, die Forschung, die Umstellungsberatung und die Aufklärung der Bevölkerung voranzubringen und die Motivation zu stärken, mehr zu Bioprodukten zu greifen. All diese Dinge müssen in einem Maßnahmenpaket gebündelt werden, um dem biologischen Landbau den nötigen Wind in die Segel zu geben und zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen.

Würden Sie für eine Rahmensetzung auf EU-Ebene plädieren oder muss das lokal oder national geschehen?

Entweder-Oder ist fast nie richtig. Es braucht beides. Zuerst benötigen wir den großen politischen Rahmen, der für die Agrarpolitik in Brüssel gesetzt wird. Aber wir müssen auch auf der Ebene der Bundesländer bis hin zu den Kommunen die Spielräume nutzen. Ein schönes Beispiel ist die rapide Ausbreitung der Ernährungsräte in Städten, die ein wichtiger Baustein einer globalen Bewegung für eine Agrar- und Ernährungswende sein werden. Es muss zu einer neuen Partnerschaft zwischen Stadt und Land kommen. Viele Menschen in den Städten zeigen uns schon, dass sie bereit sind, mit den Landwirten und Landwirtinnen und mit der Bevölkerung vom Land gemeinsam eine andere Agrarpolitik umzusetzen.

Sie haben viel Motivation für die Agrarwende und Freude aus Sikkim mitgebracht. Was hat sich für Sie nach Ihrem Besuch in Indien konkret verändert?

Ich habe dort zum ersten Mal gesehen, dass nicht nur Betriebe, Dörfer oder Regionen auf biologischen Landbau umsteigen, sondern ein ganzer Bundesstaat. Spannend ist dabei, dass das Ganze von der Vision eines Politikers ausging. Ministerpräsident Shri Pavan Chamling war selbst ein Bauernsohn und er praktizierte auch Landwirtschaft. Dazu ist er ein begnadeter Dichter und hat eine unglaublich visionäre Kraft und Energie, mit der er die Menschen mitnimmt. Der Impuls für die Umstellung kam von ihm, aber er wurde partizipatorisch mit den Bauern umgesetzt. Nur deswegen war es erfolgreich. Genau das können wir von Sikkim lernen. Wir brauchen den politischen Willen und eine große Portion Mut, denn es ging auch in Sikkim nicht ohne Widerstände. Beispielsweise hat der damalige Landwirtschaftsminister sein Amt niedergelegt, nachdem er Chamlings Vision und Plan für verrückt erklärt hatte. Nun, er wurde eines Besseren belehrt. In Sikkim passiert aber viel mehr als biologischer Landbau. Es gibt zu hundert Prozent erneuerbare Energien, Jagen und Fischen sind verboten. Wer illegal einen Baum fällt, muss zehn neue pflanzen. Gerade tritt Chamling zur Wiederwahl an. Sein nächstes Ziel ist, das Bedingungslose Grundeinkommen einzuführen. Gerade weil in Sikkim so viele spannende Prozesse laufen, spreche ich gerne und zu Recht vom Öko-Wunderland.

In Sikkim scheint es eine enorme Kraft für die Umstellung zu geben.

Die Religion, das Spirituelle und die Einstellung der Bauern und Bäuerinnen sind in der Tat ausschlaggebend gewesen. Es würde aber auch sonst funktionieren, weil die Bauern und Bäuerinnen grundsätzlich eine enge Beziehung zum Land und ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für die Natur haben. Die Verbundenheit zum Land ist auch eine Generationenfrage, die sich in Sikkim nicht stellt. Die jungen Leute bleiben gerne auf dem Land beziehungsweise in der Landwirtschaft. Zum Teil kommen sie sogar aus den Städten zurück, weil sie sehen, dass sie als BäuerInnen eine Existenz sichern, ein gutes und gesundes Leben führen können. In Sikkim ist es also im Gegensatz zum Rest der Welt keine Frage, wer in der nächsten Generation die Landwirtschaft weiterführt. Auch das ist eine positive Auswirkung der Umstellung auf ökologischen Landbau.

Hintergrund: Wie Sikkim funktioniert

Der kleine Bergstaat Sikkim liegt im Osten des Himalayagebirges. Er umfasst eine Fläche von 7.096 Quadratkilometern und eine Bevölkerungszahl von 610.577 Menschen. Der Staat grenzt im Westen, Nordosten und Südosten an Nepal, Tibet (von der Volksrepublik China okkupiert) und an das Königreich Bhutan. Sikkims Ministerpräsident Shri Pawan Chamling hat 2017 den Grand Prix des One World Awards von Rapunzel Naturkost und IFOAM-Organic Internationals erhalten. Der Preis wird an Personen vergeben, die sich für Nachhaltigkeit und eine positive Globalisierung einsetzen. Letzten Oktober hat der Bundesstaat auch den Future Policy Award erhalten, eine Auszeichnung für Gesetze, die bessere Lebensbedingungen für heutige und künftige Generationen sichern.

Dieser Erfolg geht zum einen auf den visionären Politiker Chamling zurück, der schon in seiner fünften Amtszeit tätig ist. Diese lange Zeit war nötig, damit der Staat zu hundert Prozent auf Bio umstellen konnte. Zum anderen spielt die religiös geprägte Mentalität eine wesentliche Rolle. Mit 80 Prozent nepalesischen BewohnerInnen ist Sikkim buddhistisch geprägt. Die Sicht der Menschen auf die Natur hängt mit einem unvergleichlichen Sinn für Achtsamkeit und Verantwortung zusammen, der so in anderen Teilen der Welt selten vorhanden ist. Ein anderer Aspekt, der zum Gelingen des Ökoprojektes beiträgt, ist die überschaubare Größe des Staates. Das zeigt sich zum Beispiel auch in Europa, wo Lichtenstein im biologischen Landbau am weitesten vorne liegt.

Gekürzter Text aus der Ausgabe 5/2019 der Zeitschrift info3. Hier kostenloses Probeheft bestellen.

Über den Autor / die Autorin

Andrea Kreisel

Andrea Kreisel hat Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke studiert und ist seit 2019 Autorin bei Info3.