Nichts ist unterschätzter als der Mensch

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Die Gabe eines liebenden Bewusstseins macht den Menschen wesentlich aus. Seltsamerweise wird dieses Potenzial kaum erkannt und gelebt. Wie kann Liebe zum Menschen als Kern von praktischer Weisheit und Anthroposophie konkret gelebt werden? Welche Werkzeuge und überraschenden Blickwechsel dafür wichtig sein können, erkundet unser Text.

Im Theater-Klassiker Antigone von Sophokles heißt es: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch.“ Dem will ich heute beipflichten, es aber für unsere moderne Zeit umformulieren und behaupten: Aus „ungeheuer“ ließe sich leicht „unterschätzter“ machen, denn zum einen sind wir blind für die Liebe und das Bewusstsein, das bereits in der Welt besteht, zum anderen schöpfen wir als Menschheit nur einen kleinen Teil unseres Entwicklungspotenzials aus. Beides kann durch konkrete Übung im Alltag verändert werden.

Dem Menschen wird viel zugetraut und zugemutet in dieser Welt. Er wird als leistungsfähiges Gehirn auf zwei Beinen behandelt und als künftiger Marsbewohner gehandelt. Mancher lebt in Kanalisationssystemen von Großstädten ohne Licht und gesundes Essen. Manche werden von Krieg und Unterdrückung heimgesucht. Andere wiederum vollbringen Höchstleistungen in Sport, Kunst, Technik und Wissenschaft. Aber alle diese Aspekte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch sich zu wenig zutraut und weithin unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Wie aber kann ein Mensch sich überhaupt entwickeln? Man könnte sagen: Indem er oder sie sich auf den Weg macht, die Entwicklung wirklich will, fähig wird zu hören, wonach die Welt ruft und mit Vehemenz die Spuren verfolgt, die den Weg in die nächsten Entwicklungsstufen vorzeichnen. Bei so großen Fragen ist es wohl das Klügste, keine umfassenden Antworten zu geben, mit denen man notwendig der Sache nicht gerecht wird. Deshalb kondensiere ich meine Antwort an diesem Punkt auf einen einzigen Aspekt: die positive Überraschung.

Entwicklungsfähigkeit

Sich von anderen und sich selbst positiv überraschen zu lassen (und andere aktiv zu überraschen), ist für mich ein wichtiges Anzeichen von Entwicklungsfähigkeit. Diese Überraschung sollte etwas Bleibendes und Wesentliches in sich tragen, also nicht einfach nur eine Gefälligkeit oder äußerliche Pflicht darstellen. Es geht nicht primär um positive Emotionen oder Effekthascherei. Statt aus Überraschungslust mit einem Strauß Blumen bei einem Treffen aufzukreuzen, sollte man den Strauß eher einem Menschen vor die Haustür stellen, der wahrscheinlich wenig Selbstliebe in sich trägt und wenig Liebe von außen empfängt –, eben sofern sich in Ansehung der konkreten Verhältnisse ein stimmiges Gefühl eingestellt hat. In gewissem Sinne müsste man bei dem Entschluss zu dieser Tat von sich selbst überrascht sein, das wäre zumindest ein gutes Zeichen. Die Überraschung hat die Ergebenheit an die Präsenz des Geistes im Moment zur Grundlage – darum halte ich sie für einen wertvollen Gradmesser bewusster, weiser Lebenspraxis. Nicht nur Überraschungsmomente zeitigen diese Präsenz, und in vielen erwartbaren und wiederkehrenden Momenten ist genauso Liebe und Bewusstsein enthalten. Ich möchte nur deutlich machen, dass die positive, hingebungsvolle Wesensüberraschung ein recht sicheres Zeichen für innere Wachstums- und Entwicklungspunkte ist.

Oben sprach ich vom Sich-Überraschen-Lassen. Was ich für vielleicht noch wesentlicher halte als selbst aktiv andere zu überraschen: Was habe ich heute getan, um das festgefügte Bild meinen Kolleg:innen, meinem Partner, meinen Eltern, „den Politikern“ gegenüber zu verflüssigen? Wo wurde ich heute im Kleinen positiv von einem Menschen überrascht? Welche Überraschungen bahnten sich an, ohne Wirklichkeit zu werden? Wo war ein Potenzial zu mehr Begegnung und Wahrhaftigkeit anwesend, ohne dass es genutzt wurde? Wo hätte ich durch mehr Lassenskraft und Gelassenheit eine Tiefe wahrnehmen können, die ich in dem Moment durch inneres Geschrei übertönt habe? In klassischer Manier könnte man vor dem Zubettgehen diese Situationen vor dem inneren Auge vorbeigleiten lassen und sie so mit in die unbewusste Gehirnreinigung des Schlafes integrieren. Die Haltung der positiven Überraschbarkeit ist eine Variation der Nebenübung der Positivität, wie sie Rudolf Steiner formuliert hat und ich versuche sie zu kultivieren, so oft es geht.

Sich selbst überraschen

Es hat einen besonderen Zauber, sich selbst zu überraschen. Das Paradox, in dem das wache Bewusstsein sozusagen von der eigenen Wachheit aufgeweckt wird, ist schwer zu fassen. Praktisch lässt es sich erleben, wenn man beispielsweise in der Frühe ein Bild des Tages gefasst hat, was wie ein Tableau vor der Seele liegt und dann am Ende des Tages Zeiträume des Tages vergegenwärtigt, wo eine besondere Qualität anwesend war, die die Erwartung des Morgens überstiegen hat. Wo habe ich im Laufe des Tages Momente erlebt, die das Unerwartete, Neue, das, was mich in einem positiven Entwicklungsklima in zehn Jahren voll ausmachen wird, verkörpern?

An der Stelle könnte man fragen, warum nicht auch die negativen Überraschungen in den Blickpunkt rücken sollten. Es ist nicht gesund für den Menschen, substanziell die negative Seite der Dinge anzupeilen. Diese sollte zwar angeschaut und integriert werden, aber die Probleme des täglichen Lebens halten dafür schon genug Material bereit: Knappheit an Geld, Ressourcen, Kraft und Geistesgegenwart; Momente, in denen es nicht gelingt, sich selber weiter zu entwickeln, Momente der Unachtsamkeit, der Regression, der Panik säumen den Alltag. Fest begrenzte Interventionen zur Schattenarbeit, in denen Privilegien, Egoismen und Schmerzpunkte der Vergangenheit aufgearbeitet werden, reichen völlig aus und brauchen nicht auf das Ganze des Tages ausgedehnt zu werden. Im „3-2-1-Prozess der Schattenarbeit“ aus der Integralen Lebenspraxis nach Ken Wilber geht es beispielsweise darum, abgespaltene und nach Außen projizierte negative Gedanken wieder zu integrieren, sie von der 3. Person („Die da draußen sind ungerecht“), zunächst an ein „Du“ zu adressieren („Du bist ungerecht zu mir“), um sie schließlich zu sich selbst zu nehmen („Ich fühle Ungerechtigkeit in mir“).

Werkzeuge der Weisheit

Letzteres weist schon auf konkrete Werkzeuge praktischer Weisheit, denn um die Weisheit wirklich auf die Straße zu bringen, reichen das Üben einer Haltung und das Studium von Büchern nicht aus. Es geht vielmehr darum, Routinen, Projekte und Haltungen im Geistigen, im Emotionalen und im Handfesten zu entwickeln, die zu einem liebenden Bewusstsein und intelligenten Strukturen führen. Jeder Mensch wird hier sein ganz eigenes Bündel an Traditionen, Techniken und Szenen finden, die ihn auf dem Weg begleiten. Wichtig wäre nur, dass er oder sie sich überhaupt auf den Weg begibt. In meinem Fall tauchen in dem Zuge Wegbegleiterinnen auf, die auf Namen hören wie: Integrale Theorie und Integrale Lebenspraxis, anthroposophische Biographiearbeit, die Weisheit des Enneagramms, „Fünf Sprachen der Liebe“, Conscious Kink, Permakultur, Psycholyse, oder Metta-Meditationen und Wim-Hof-Atmung. Ohne sie hier im Einzelnen beschreiben zu wollen: Sie sind Werkzeuge oder Techniken der Liebe und der Bewusstwerdung, die mir helfen, überhaupt eine Sprache und Wegmarken des Wachstums zu finden. Sie lassen positive Überraschungen am Wegrand zurück, wenn ich trotz oder gerade wegen der verschiedenen Konzepte, Typologien und intellektuell gefärbten Wahrnehmungen etwas wahrhaft Schönes an einem Menschen entdecke, was mich überrascht und was wiederum dem Gemeinsamen zwischen der Person und mir die Chance einer anderen Zukunft gibt. Um es also noch einmal ganz klar zu sagen: Ohne ritualisierte Routinen kann praktische Weisheit nicht verstetigt werden, sie muss in die Alltagspraxis einfließen. Ebenso wenig kann sie ohne konkrete Projekte, Unternehmungen und eine spezifische Berufung gelingen, die wiederum die Welt kaum bessern werden, wenn eine liebevolle Grundhaltung nicht stetig genährt und entwickelt wird. Das alles auf der Ebene des Körpers, der Hand, des Herzens, des Geistes. Da bekommt man es mit der Liebe zu tun, wenn man sich wirklich auf ein derartiges Curriculum einließe. Ob mir das gelingt, ist eine gute Frage, aber ich arbeite mich Stück für Stück zu der eigentlichen Aufgabe vor.

Meine aktuelle Zwischenaufgabe besteht vor allem darin, die bereits bestehende Liebe in der Welt sichtbar, wirksam werden zu lassen und zu veredeln. Es gehört zu meinen Grundüberzeugungen, dass Menschen nicht so egoistisch, böse und ängstlich sind, wie sie sich selber gerne kaprizieren (und sie so gesehen weniger die „Ungeheuer“ sind, als die sie schon im alten Griechenland ihre Schrecken verbreiteten). Viele Menschen haben überwiegend gute Impulse in sich, für die sie manchmal vielleicht keine gute Sprache oder soziale Umgebung finden. Kaum jemand würde ein Kind in einem Teich beim Vorbeigehen ertrinken lassen, wohl aber stockt unser praktisches Mitgefühl, sobald ein Unglück außerhalb der konkreten Wahrnehmung passiert. Häufig wird der eigentlich vorhandenen Liebe nur ein ungeheurer Streich gespielt, der sie unwirksam werden lässt. Auch bei Volksfesten, Fußballspielen und in der bürgerlichen Kleinfamilie sehe ich liebende Impulse wirksam, die zunächst der Anerkennung und dann der Weiterentwicklung bedürfen. Diese integrierende und versöhnliche Haltung gegenüber allen Menschen gilt es zu üben. Ob mir das flächendeckend gelingt und was dabei herauskommen wird, ist ungewiss. Ich lasse mich überraschen. ///

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.