Karma des Berufs

Foto: Mario Gogh/Unsplash

Karma und Technik – das passt eigentlich nicht zusammen. Wie Beruf, Arbeit und Technik mit dem geistigen Schicksal unserer Tage zusammenhängen, untersuchte Rudolf Steiner vor über einhundert Jahren in einem denkwürdigen Vortrag. Die Botschaft lautet: Befreien wir unser Inneres, befreien wir uns von der Technik und das Wesen der Technik gleich mit.

Karma betrifft das ganze Leben. Es wird jedoch seit etwa zweihundert Jahren hauptsächlich von der Arbeit, also dem Berufsleben, geprägt. Auch wenn das traurig ist, ist doch wahr, dass in unseren Breiten Muße, Spiritualität und Gemeinschaft größtenteils der Arbeit Platz gemacht haben. Diesen Umstand greift Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über „Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben“ aus dem Jahr 1916 (GA 172) auf, besonders im vierten Vortrag. Wie der Mensch in seiner Arbeit – diesem zentralen Dreh- und Angelpunkt seines Lebens – drinnen steht, und wo die Arbeitswelt insgesamt hinsteuert, ist Steiners Frage.

Früher, so Steiner, waren die Menschen mit ihrem Inneren sehr präsent in den Früchten ihrer Arbeit.  Ein Schreiner, Bäcker oder Geigenbauer stellte gewissermaßen Einzelstücke her, die alle seinen ganz individuellen Hand- und Geistesabdruck trugen. Sein Seelisches war also in diesen Gegenständen wiederzufinden. Mit zunehmender Industrialisierung wurde immer mehr Massenware produziert und dieses Innerliche war immer weniger in den Erzeugnissen anwesend. Die in viele Einzelschritte aufgeteilte Arbeit wurde von unterschiedlichsten Menschen und unter Einsatz von immer mehr Technik bewältigt. „Es wird nicht mehr möglich sein in der Zukunft, dass man gewissermaßen aus dem Glutherd der erfreulichen Berufsarbeit heraus seine eigene menschliche Wärme den Dingen mitgeben wird“, konstatiert Steiner. Erstaunlicherweise will er diesen Prozess nun aber gar nicht ungeschehen machen und nicht – überspitzt gesagt – überall filzende Waldorf-Handwerkerkolonien etablieren. Er sieht den Prozess als unausweichlich an und sogar als Stimulans der menschlichen Entwicklung ex negativo: „Unsere Arbeit, die gerade im objektiven Berufsprozess geleistet wird, wird abgelöst von uns und wird die äußere Hülle für elementarische Wesenheiten, die sich durch die Evolution weiterentwickeln.“ Dies ist der karmische Hintergrund des modernen Arbeitsmenschen: „Der Mensch wird heute, wenn wir einen radikalen Fall nehmen, in die Fabrik gesteckt durch sein Schicksal. Er arbeitet vielleicht nicht einmal einen Nagel, sondern nur einen Teil eines Nagels aus, der dann wiederum durch einen anderen Menschen zusammengestellt wird mit einem anderen Teile des Nagels.“ Diese Arbeitsteilung und Technisierung führe zu einer Veräußerlichung dessen, was man „Beruf“ zu nennen pflegt. Dadurch werden gehörige „motorische Kräfte“ frei, so Steiner, also eine enorme Zunahme an technisch-materiellen Möglichkeiten. Nur deshalb, weil ich als Hersteller nicht an diesem einen konkreten Produkt hänge, kann es massenhaft hergestellt und um die Welt gehandelt werden. „Beruf ist schon heute in hohem Grade und wird immer mehr und mehr werden das, zu dem man berufen wird durch den objektiven Werdegang der Welt.“

Es ist ein Entwicklungsprozess, der durch Polaritäten angeregt wird. Auf der einen Seite die immer objektivere Berufsarbeit: „So wie zur negativen Elektrizität die positive, zu dem Weiblichen das Männliche notwendig ist, so ist zu dem, was sich als Berufstätigkeit immer mehr loslösen wird von der Menschheit, ein anderes notwendig, ein entgegengesetzter Pol.“ Dieser andere Pol ist die innere Entwicklung, Geisteswissenschaft, oder wie Steiner es ausdrückt: „die feinen, in dem menschlichen Willensleben und Gesinnungsleben liegenden Pulsationen“. Darin soll man kein Spezialist sein, sondern Generalist: die Liebe und das Bewusstsein sollen in alle Richtungen wachsen. Nur so könne man dem Fortschreiten der Technik ein Gegenüber sein: „Daher muss … die Einsicht in die menschlichen Herzen kommen, dass in demselben Maße, als die Berufe die Menschen vermechanisieren, nach und nach immer mehr gerade für die sich spezialisierenden und mechanisierenden Menschen der Gegenpol intensiver und intensiver tätig werde, der darinnen besteht, dass der Mensch seine Seele anfülle mit demjenigen, was ihn nahebringt jeder anderen Menschenseele, gleichgültig, wie sie sich spezialisiert hat.“

„Die Gesinnung wird mit in die Fabrik hineingehen und sich übertragen auf die Art und Weise, wie die Maschinen arbeiten. Der Mensch wird zusammenwachsen mit der Objektivität.“ Rudolf Steiner

Im Ergebnis schwebt Steiner etwas Wunderbares, ja fast Ungeheuerliches vor: eine höhere Einheit von Mensch und Technik. Ist er gar ein verkappter Transhumanist? Nein, aber laut Steiner würden bisher unvorstellbare Dinge möglich, wenn beide Pole – spezialisierte äußere Arbeit und Technik und innere Liebe und Geist für alle – in guter Weise zusammenwirken. Er sagt, „dass in der Zukunft ganze Fabriken individuell wirken werden, je nach demjenigen, der die Fabrik leitet.“ „Die Gesinnung wird mit in die Fabrik hineingehen und sich übertragen auf die Art und Weise, wie die Maschinen arbeiten. Der Mensch wird zusammenwachsen mit der Objektivität.“ Das Menschliche ist aus der Arbeit, aus der Industrie immer mehr entwichen, aber laut Steiner wird das nicht für immer so bleiben. Es wird wieder verschmelzen, die Frage ist nur, ob ein waches und geschultes Inneres mit der Technik zusammen eine höhere Einheit bildet, oder ob das Menschliche dabei verlorengeht. Steiner visioniert optimistisch: Situationen werden eintreten, „in denen ein Mechanismus dastehen wird, der in Ruhe verharrt; ein Mensch wird hinzutreten, der wissen wird, dass er eine Handbewegung so, eine andere in einer bestimmten Weise dazu, eine dritte so zu machen hat, und durch dasjenige, was da als Luftschwingungen entsteht und was die Folge eines bestimmten Zeichens ist, wird der Motor in Bewegung gesetzt sein, der abgestimmt sein wird auf dieses Zeichen.“ Exemplarisch hat er das Thema in der Figur des Doktor Strader in den Mysteriendramen verewigt, dessen Thema genau diese Kreuzung von Mensch und Technik ist. Sogar Anweisungen für den Bau einer Apparatur, die von der feingeistigen Innerlichkeit eines Menschen gesteuert wird, gab Steiner zu Protokoll, die auch tatsächlich bisweilen nachgebaut wird und als „Strader-Apparat“ bekannt ist. Halten wir also fest: Für Steiner fordert die zunehmende Technisierung besonders im Arbeitsleben das Innere heraus, sich auch umfassend zu entwickeln. Gelingt letzteres, ist der Weg frei für eine sensible und bewusste Technik und eine entsprechende Berufslandschaft.

Warum soll ich als Mensch nur den Teil eines Nagels herstellen,
wenn das einer Maschine viel mehr liegt?

Es ist ein schöner Gedanke, die Spezialisierung, der wir alle unterliegen, durch eine geistig-soziale universelle Wärme zu flankieren und so zu einer höheren Einheit zu verhelfen. Vielleicht ist es aber richtiger, die Spezialisierung ganz an die Technik abzugeben und das Universelle, Ganzheitliche zur wirklichen Domäne des Menschen zu machen. Warum soll ich als Mensch nur den Teil eines Nagels herstellen, wenn das einer Maschine viel mehr liegt und ich dabei Zeit und Muße vergeude, die an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt wären? Wäre es nicht besser, zum Regisseur von Komplexitäten zu werden, wilde Gärten anzupflanzen, Gemeinschaften zu gründen und auseinandergefallene zu verbinden – und all das unter der Mithilfe des Heeres an Maschinen, Rechnern und bereitwilligen Automaten? Klar braucht es die einen oder anderen Spezialist:innen im Berufsleben, damit diese Dinge auf hohem Niveau blühen können, aber sind heute nicht viel mehr Generalist:innen gefragt, die einen Blick für das Ganze haben, die delegieren können, die Menschen und Maschinen gleichermaßen führen können? An dieser Stelle ist die Zeit vielleicht schon einen Schritt weiter als Steiner es vor hundert Jahren sah.

Ein anderer, noch wichtigerer Aspekt ist der richtige Umgang mit dem technischen Pol, den wir jetzt schon praktizieren sollten. Der technische Pol ist nicht nur in der mechanischen, physischen Technik immer weiterzutreiben durch Spezialisierung, sondern auch im Bereich des Inneren: Gedanken, Emotionen, Gemeinschaft. Jede geistige, soziale oder verkörperte Sache; jeder Gedanke, jede Beziehung, jede Verkörperung – sie alle haben einen technischen Aspekt, nicht nur den genuin innerlichen. Es ist das für alle überprüfbare, oberflächlich sichtbare Vernünftige in ihnen. Ich versuche, ganz konkret zu machen, was ich meine: ein Gedanke, den ich nur innerlich denke, ist für meine Mitmenschen nicht sichtbar; gebe ich dem Gedanken einen Begriff, mache ich ein Konzept, eine Theorie daraus, die ich veröffentliche, kann jeder Mensch das Innere meines Gedankens prüfen und darauf Bezug nehmen. Gleiches gilt für Gefühle und Gemeinschaftsbildung: Habe ich nur ein Gefühl für mich oder ein innerliches Geheimnis in meiner Gemeinschaft, ist es für andere nicht nachprüfbar; nutze ich hingegen eine Sprache wie Gewaltfreie Kommunikation oder gruppendynamische Modelle der Gemeinschaftsbildung, können andere auf diesen technischen, äußeren Teil des Seelischen Bezug nehmen und sich daran weiterentwickeln. Die Strader-Apparate, die tätsächlich schon existieren bzw. bald existieren werden, sollten eher an diesen technischen Momenten des menschlichen Inneren ansetzen, als an physisch-mechanischer Technik. Bis ich als Mensch einen Bagger mit dem Geist bedienen kann, ist es ein noch langer und nicht ganz deutlicher Weg. Bis ich mich aber des menschlichen Geistes bedienen kann, seinem Technischen, oder dem Sozialen, dem Sozialtechnischen, muss ich nicht mehr lange warten, sondern kann direkt beginnen, wenn ich die innere Reife oder die richtigen „Hebel“ finde, die diese Reife hervorrufen helfen. Götz Werner hat das sehr schön zum Ausdruck gebracht: „Soll also in den Mitarbeitern das ganz gewiss immer vorhandene unternehmerische Potenzial geweckt werden, dann gehört es zur sozialen Technik, es entsprechend anzusprechen. Die Technik bzw. die soziale Kunst besteht nun darin, im Unternehmen bestimmte Bedingungen dafür herzustellen, unter denen dies möglich wird.“

Meist wird aber das Geistige, Seelische und Gemeinschaftliche in Unternehmen, wenn überhaupt, nur als Inneres gestaltet, die technische, professionelle Seite im Umgang mit dem Inneren wird vernachlässigt. Eben diese Seite des Inneren anzuerkennen, hieße, sich nicht zu verschließen vor dem Verstand, vor Organisationsmodellen, Schemata, Konzepten, Theorien, die auch im Geistigen und im Zwischenmenschlichen eine Transparenz und Vergleichbarkeit herstellen. Die Menschen, die davor zurückschrecken, gleichen einer Feuerwehr, die sich nur für Bildung von Funken interessiert, aber nicht weiß, wie man einen Brand löscht.

Es wimmelt von Strader-Apparaten

Die vielversprechendsten Strader-Apparaturen, also subtile Mensch-Technik-Hybride, sind wir selbst. Es gibt kraftvolle Atem- und Meditationstechniken, aber auch Organisations- und Kulturtechniken und selbst Denktechniken, die, nüchtern angewandt, das Menschliche potenzieren können. Dadurch können die Menschen selbst zu utopischer Technik, zu Strader-Apparaten werden.

So mancher Nachbau einer Strader-Apparatur, der in Abstellräumen auf seine Energetisierung wartet, bliebe vorerst besser, was er ist: ein reiner Platzhalter, Symbol einer durchgeistigten Materie. Stattdessen wäre es lohnenswert, die Strader-Apparate, die wir alle mit uns herumtragen, zu nutzen und in Schwingung zu versetzen. Das ist auch keine leichte Aufgabe, aber sie ist viel aussichtsreicher, als die tiefsten Ebenen der Physik geistig zu durchdringen. Ein erster Schritt wäre, umzusetzen, was ich – von Steiner inspiriert – den „Bewussten Mensch-Technik-Schalter“ nenne. Sobald eine Technik eingesetzt wird, aber die beteiligten Menschen ihre geistige Wachheit verlieren, schaltet sich die Technik ab und fordert den Menschen dazu auf, wieder ins Bewusstsein zu kommen. Das Smartphone etwa registriert anhand bestimmter Zeichen, dass ich nicht mehr aufmerksam und präsent bin, obwohl ich es benutze und sendet eine Mitteilung, mit der Anregung zu meditieren oder an die frische Luft zu gehen. Anders herum wäre es auch konsequent für ein menschliches Bewusstsein, das zwar präsent ist, aber in einer Frage nicht weiterkommt, partiell an die Technik zu übergeben, die dann aushilft, sodass eine neue höhere Einheit entstehen kann. Etwa, wenn ich eine Kalkulation für einen Hausbau mache und ab einer gewissen Tiefe meine Rechenkapazitäten erschöpft sind. Dann springt die Technik ein und rechnet für mich, aber nur bis zu dem Punkt, wo sich das Rechnen und das Modellhafte, verselbstständigen, ab dort muss ich wieder mit dem wachen Ich zur Stelle sein. Es funktioniert etwa so wie die Trittunterstützung bei einem E-Bike, nur im Geistigen. Sie schaltet sich ein, wenn ich Probleme habe, etwa bergauf, und schaltet sich aus, wenn ich selbstständig zurechtkomme.

Wir werden Mensch-Technik-Hybride, aber ohne eine der beiden Seiten zu verunstalten. Diesen Fehler macht der Transhumanismus, der das menschliche Innere entwertet und verunziert. Schenken wir dem Inneren, wie auch dem Äußeren, Technischen mehr Aufmerksamkeit, wie ich hier skizziert habe, dann erfüllt sich das Karma des Arbeits- und Berufslebens in utopischer Weise. So hat es auch schon Steiner gesehen: „Das aber führt … dazu, dass wirklich wiederum aus unserer, ich möchte sagen lebensgleichgültigen und lebenszurückgezogenen Zeit, die vielfach gerade für die Berufsmenschen vorhanden ist, eine ganz andere Zeit hervorgehen wird, eine Zeit, in der die Menschen wiederum aus ganz anderen Impulsen heraus schaffen werden.“ ///

Ein Text aus der Ausgabe 1/2023 der Zeitschrift info3. Hier kostenloses Probeheft bestellen.

Über den Autor / die Autorin

Alexander Capistran

Alexander Capistran studierte Philosophie in Berlin, an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues und an der Universität Witten/Herdecke. Er
arbeitet als Organisationsentwickler bei Gravitage.org und als
Publizist, lebt bei Dresden und promoviert über die Philosophie der
Mobilität. Seit Januar 2021 ist er Mitarbeiter in der info3-Redaktion.

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