Rassismus als strukturelles Problem begreifen

Wut, Trauer, Angst und die Frage, wie es weitergeht nach dem Anschlag in Hanau. Foto: Laura Krautkrämer.

Ungefähr eine Woche nach dem terroristischen Anschlag in Hanau fand in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main ein solidarischer Gesprächsabend statt. Über Trauer, Wut und Angst, richtiges Handeln und politische Konsequenzen.

Ferhat, Mercedes, Gökhan, Sedat, Hamza, Kolayan, Vili, Fatih, Said und Frau R. – das sind die Namen der Menschen, die dem rassistischen Anschlag von Tobias Rathjen in Hanau Mitte Februar zum Opfer gefallen sind. Doch sie sind nicht nur Opfer, sie sind Söhne, Mütter, Freunde, Kolleg*innen. Sie sind nicht „die anderen“ und dennoch müssen Menschen wie sie, die als migrantisch gelesen und gedeutet werden (wollen) mit Rassismus und anderen feindlichen Auswucherungen unserer Gesellschaft kämpfen – und das täglich. „75 Jahre nach Kriegsende steht endgültig fest, es gibt wieder rechten Terror in Deutschland“, kommentierte ARD-Redakteur Rainald Becker als einer unter vielen. Wie können wir als Gesellschaft damit umgehen? Was müssen wir tun, um nicht nur so schlimme Taten wie in Hanau, Halle und vormals in Mölln oder Solingen zu verhindern, sondern vor allem auch die Spaltung der Gesellschaft im täglichen Leben? Und jetzt, so kurz nach dem Anschlag, stellt sich außerdem die Frage: Wohin mit der Wut, der Trauer, der Angst und der Fassungslosigkeit?

Auf dem Podium „Hessen ganz rechts – und wieder tötet Rassismus“ in der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank sprachen Olivia Sarma, Leiterin der Beratungsstelle Response für Betroffene rechter, rassistischer & antisemitischer Gewalt, Mehmet Daimagüler, Jurist, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess und Autor, Danijel Majic, Journalist bei der hessenschau, und Walid Malik, ein antirassistischer Aktivist. Aisha Camara von Response Hessen moderierte das Gespräch. Der Abend begann mit einer Schweigeminute, die Tränen auslöste. Die ersten Sätze zur Begrüßung gingen der Moderatorin, die sich selbst betroffen fühlt, nur schwer über die Lippen. Sie zitierte die Journalistin Ferda Ataman, die kürzlich twitterte: „Seit dem Anschlag von Hanau fühle ich mich, als hätte mich ein Lastwagen überrollt. Aber ich rede, schreibe, moderiere und funktioniere weiter. Wie alle Black Persons of Color. Wenn bald die Aufmerksamkeits-Karawane weiter zieht, bleiben wir mit dem Kloß im Hals zurück. Wie immer.“ Ein geplanter Medienbericht über Hanau musste zum Beispiel, so die Leiterin der Bildungsstätte Saba-Nur Cheema zur Begrüßung, bereits zugunsten des Corona-Virus’ zurückgestellt werden. Vor einer Rückkehr zum „business as usual“ warnte Sarma, die an jede und jeden Einzelnen appellierte, nicht wie damals nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde weiter zu machen wie bisher.

Nach fassungslosem Schweigen zur Sprache finden

Es braucht neue Narrative für rassistischen Terror! Wir müssen mehr über die Opfer reden, die Tat darf nicht als Einzelfall dargestellt werden, Politiker*innen müssen das „R-Wort“ in den Mund nehmen, es müssen überall mehr Black Persons of Color eine Stimme bekommen und Rassismus, Islamophobie, Sexismus und andere Diskriminierungen, die zu Gewalt führen, müssen „endlich als strukturelles und systemisches statt als individuelles Problem begriffen werden“, so Malik.

Dazu gehört, so Daimagüler, dass rassistische Gewalt nicht weiter entpolitisiert wird. Wenn das Rechtssystem tägliche rassistische, antisemitische oder islamophobe Motive auch weiterhin nicht erkennt, wird es weiter Gewalt geben – ohne rechtliche Konsequenzen. „Ich wüsste nicht in welchem Jahr wir keine rechtsradikalen Morde gehabt haben sollen. Rechte Taten unterhalb von Mord und Totschlag werden gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Und solche Nazis, die Menschen totgeschlagen haben wurden bedenkenlos als V-Leute angeworben”, so Daimagüler.

Deutschland muss etwas unternehmen. Das Thema Rassismus muss in die Curricula von Schulen aufgenommen werden, Medien haben die Pflicht, über die Dinge zu reden, ebenso die Politiker*innen. Angela Merkel – „Rassismus und Hass sind ein Gift“ – hat es beispielsweise bereits getan. Vor allem geht es nun darum, nachhaltig solidarisch zu sein und füreinander Schutz zu bieten. „Der Staat schützt uns nicht“, sagte Malik. Communities müssen sich transnational vernetzen und sich selbst schützen. Daigmagüler fordert, „wenn wir jetzt nicht die Lehren ziehen, das heißt auch zu fragen, woher dieser Rechtsextremismus kommt, werden die Menschen in Hanau umsonst gestorben sein.“ Damit rechtsradikale und rassistische Motive gar nicht erst entstehen, braucht es die Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Es braucht Dialoge und Räume des Zuhörens, um zu verstehen und mitzufühlen. „Wenn Sie etwas unternehmen können, zumindest für die anderen Jugendlichen, mein Sohn soll bitte nicht für nichts gestorben sein. Der Rassismus soll keine andere Familie mehr zerstören“, so die Worte von Serpil Temiz, der Mutter des ermordeten Ferhat Unvar. Die Verantwortung tragen wir alle.

Weiterführende Links zum Thema:

Jens Heisterkamp über den Anschlag in Halle

Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt Hessen

Chronik des Terrors, die Taten der letzten Jahre seit 1974 im Überblick

Bericht von Danijel Majic über Wut und Trauer

Mitschnitt der Veranstaltung in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main auf Spotify oder auf Mixcloud.

Über den Autor / die Autorin

Andrea Kreisel

Andrea Kreisel hat Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke studiert und ist seit 2019 Autorin bei Info3.