Moria – die Schande Europas

Luftbild des Lagers Moria vor dem Brand

Ein Feuer auf der griechischen Insel Lesbos hat das Flüchtlingslager Moria vollständig zerstört. Es war eine Katastrophe mit Ansage, denn seit Jahren leben Geflüchtete in Griechenland unter erschreckenden Bedingungen. Ein Ausweg ist nicht in Sicht.

Am Morgen nach dem verheerenden Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria ist Vicent Clement, ein Bewohner des Lagers, auf das Gelände zurückgekehrt. Nachts, als die Flammen ausbrachen, hatte er sich in die umliegenden Olivenhaine geflüchtet. Nun steht er vor den Trümmern, zeigt mir per WhatsApp mit seiner Handykamera, was von Europas größtem Flüchtlingslager übriggeblieben ist: Ausgebrannte Gebäude, Stoffreste verkohlter Zelte, Schutt und Asche auf dem Boden. Bis auf einen Rucksack mit Habseligkeiten und seinem Smartphone hat Clement alles verloren.

Der Mann aus Nigeria, 33 Jahre alt, steht da und weiß nicht, wohin. Einige Geflüchtete aus dem Camp haben sich auf den Weg in die Hauptstadt Mytilini gemacht, in der Hoffnung, dass dort Schiffe warten, die sie endlich wegbringen von der verhassten Insel. Die Polizei blockiert die Straßen um zu verhindern, dass sie zum Hafen vordringen. Außer ein paar hundert unbegleiteten Minderjährigen wird niemand evakuiert. Stattdessen herrscht tagelang Ausnahmezustand auf Lesbos. Fast 13.000 Menschen lebten zuletzt im Flüchtlingslager Moria, jetzt irren sie ohne Obdach umher. Frauen und Kinder liegen am Straßenrand. Ohne Decken, ohne Nahrungsmittel. Einige Geflüchtete protestieren gegen die Absperrungen der Polizei und werden mit Tränengas attackiert. Nichtregierungsorganisationen verteilen Wasserflaschen, weil die Menschen durstig sind und Abwasser aus Schläuchen trinken. Die Bilder, die Reporter*innen nach Deutschland schicken, wirken wie aus einem Kriegsgebiet. 

Alptraumhafte Zustände

Dabei ist die griechische Insel Lesbos eine beliebte Insel für europäische Touristen. Im beschaulichen Hafen von Mytilini gibt es Bars und Eiscafès. Das Flüchtlingscamp, das nun niedergebrannt ist, lag knapp 20 Minuten mit dem Auto von hier entfernt. Als „Schandfleck Europas“ wurde Moria oft bezeichnet, eine ehemalige Kaserne, umzäunt von Stacheldraht. Eigentlich war das Camp für rund 3.000 Menschen ausgerichtet, doch zeitweise lebten hier fast 20.000 Geflüchtete. Viele wohnten in Zelten, auch im Winter. Klos und Duschen waren verdreckt, überall roch es nach Müll. Stundenlang mussten die Menschen jeden Tag auf ihre Essenspakete warten, manchmal gab es nicht genug für alle. Krankheiten wie die Krätze breiteten sich aus. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen berichteten von Kindern, die Suizidversuche begingen oder sich selbst verletzten. „Das Leben in Moria war ein Alptraum“, sagt Clement, der Geflüchtete aus Nigeria.

Über ein Jahr lebte er in dem Flüchtlingslager, die meiste Zeit in einem Zelt, zuletzt in einem Wohncontainer. Wartete auf die Bearbeitung seines Asylantrags. Doch weil die griechischen Behörden mit den tausenden Geflüchteten heillos überfordert sind, ziehen sich die Verfahren oft über Monate hin. Die Schutzsuchenden dürfen während dieser Zeit die Insel nicht verlassen. So steht es im Migrationsabkommen, dass die EU im März 2016 mit der Türkei geschlossen hat. Bootsflüchtlinge, die von der Türkei auf den griechischen Inseln ankommen, müssen demnach dort bleiben, bis ihr Asylantrag entschieden ist. Diese Regelung führt dazu, dass tausende Menschen auf den völlig überfüllten Inseln Lesbos, Samos und Chios feststecken. Die Zustände in allen griechischen Flüchtlingslagern haben sich kontinuierlich verschlechtert – obwohl Griechenland seit 2014 über 2,9 Milliarden Euro für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen von der EU erhielt. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung vor, die inhumanen Zustände in den Camps bewusst aufrechtzuerhalten. Als Abschreckung, damit nicht noch mehr Bootsflüchtlinge aus der Türkei kommen.

Verschärfung durch Corona

Durch Corona hatte sich die Lage im Flüchtlingslager Moria noch einmal verschärft, weil eine Ausgangssperre für alle Bewohner verhängt wurde. Ohne spezielle Erlaubnis durften die Menschen das heillos überfüllte Camp nun gar nicht mehr verlassen. Vermutlich haben Geflüchtete selbst die Feuer in Moria gelegt. Aus Protest, aus Hilflosigkeit, aus Verzweiflung. Mehrere mutmaßliche Brandstifter wurden festgenommen.

Seit Jahren schon gehen immer wieder Bilder der erbärmlichen Zustände in dem Camp um die Welt, ohne dass etwas passiert. Forderungen danach, die Geflüchteten aus Griechenland zu evakuieren, werden von Politikern mit der Begründung abgewiesen, es brauche eine „europäische Lösung“. Doch Staaten wie Österreich oder Ungarn weigern sich beharrlich, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Eine europäische Einigung ist auch nach dem Feuer auf Lesbos nicht in Sicht. Menschen wie Vicent Clement werden zum Spielball der europäischen Flüchtlingspolitik.

Die griechische Regierung hat inzwischen ein neues provisorisches Camp errichtet – allerdings haben dort nur knapp 3.000 Menschen Platz. Und viele weigern sich, in das neue Zeltlager zu ziehen, weil sie befürchten, dass die Zustände dort genauso schlimm sind wie in Moria. „Die Menschen schlafen nach wie vor draußen auf der Straße oder in den Olivenhainen”, berichtet mir der aus Mainz stammende Arzt Gerhard Trabert. Er ist nach Lesbos gereist, um die Schutzsuchenden auf der Insel medizinisch zu versorgen. Die Situation sei nach wie vor sehr chaotisch, die Menschen auf der Straße hätten keine Trinkwasserversorgung, zum Teil nichts zu Essen. „Viele sind total erschöpft, sogar suizidal gefährdet“, sagt Trabert. Weil sie nicht wüssten, wie es weitergehen soll.

Auch Vicent Clement ist am Ende seiner Kräfte. Kurz war da ein Hoffnungsschimmer, als er im Fernsehen sah, dass die Bilder aus Lesbos plötzlich um die Welt gingen, dass Deutschland und Frankreich über die Evakuierung von Flüchtlingen diskutierten, dass in Berlin und anderswo Tausende dafür protestierten, die Geflüchteten aus Moria aufzunehmen. Aber Clement weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Bilder wieder verschwinden. ///

Lucia Heisterkamp ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins Desert Rose zur Bekämpfung von Menschenhandel in Nordafrika. Die Verhältnisse auf Lesbos kennt sie aus eigener Anschauung durch einen Aufenthalt als Helferin. Derzeit studiert sie an der Evangelischen Journalistenschule Berlin. Sie schreibt für verschiedene Medien zu den Problemen der Migration.

Über den Autor / die Autorin

Lucia Heisterkamp