Hilma af Klint gehörte zu den ersten Frauen, die an der Stockholmer Kunstakademie ausgebildet wurden und war zunächst als Landschaftsmalerin erfolgreich, bis sie ihren Stil unter dem Eindruck intensiver spiritueller Erlebnisse radikal veränderte. Zusammen mit ihrer Künstlerfreundin, lebenslangen Unterstützerin und wohl auch zeitweiligen Geliebten Anna Cassel und drei weiteren Teilnehmerinnen bildete sie den spiritistischen Zirkel „De Fem“ („Die Fünf“). Bei ihren Séancen empfingen sie Botschaften von geistigen Wesen, die dazu führten, dass Af Klint ab 1906 symbolisch aufgeladene Bilder mit einer völlig neuen Formensprache schuf, die auch abstrakte Elemente umfasst (deutlich vor Wassily Kandinsky, der mit einem 1911 entstandenen entsprechenden Werk lange Zeit als „Erfinder“ der Abstraktion galt). Dieser künstlerische Prozess, die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen den Frauen und ihre Suche nach einer neuen, spirituell erweiterten Weltsicht sind der historische Handlungsstrang des kürzlich erschienenen Romans „Hilma“, verfasst von der Schwedin Sofia Lundberg und den Amerikanerinnen Alyson Richman und M. J. Rose.
Die Autorinnen verknüpfen markante Erlebnisse im Leben der Malerin mit der in der Gegenwart spielenden Geschichte des fiktiven amerikanischen Kurators Eben Elliot. Dieser trifft im Roman bei einem Stockholmer Kongress zunächst auf eine frühere Lebensgefährtin, die sich mit spiritueller Kunst beschäftigt, und dann auf Hilma af Klints Bilder – was zu jener spektakulären Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum führt, die 2018/2019 auch in der Realität den endgültigen, international beachteten Durchbruch der Künstlerin besiegelte. All dies wird als eher leichte Lektüre aufbereitet, mit einiger künstlerischer Freiheit und Mut zur Lücke. Die über viele Jahre andauernde Auseinandersetzung Af Klints mit Theosophie und Anthroposophie bildet eher eine Randnotiz. Rudolf Steiner, dessen Vorträge sie mehrfach besuchte und dem sie ihre für einen zukünftigen Tempel konzipierten Bilder auch vorstellte – offenbar in der Hoffnung, er würde sie ins gerade erbaute Goetheanum integrieren – taucht lediglich an zwei Stellen kurz auf. Die schon länger währende Wiederentdeckung der Künstlerin, deren abstrakte Werke gemäß ihrer Verfügung erst 20 Jahre nach ihrem Tod wieder öffentlich ausgestellt werden durften, tritt zugunsten der fiktionalen Zuspitzung der Ereignisse ebenfalls in den Hintergrund.
Dennoch bildet der Roman einen äußerst unterhaltsamen Einstieg in Leben und Werk dieser Ausnahmekünstlerin.Und alle, die dadurch neugierig werden und mehr erfahren wollen, finden jede Menge Futter: In der 2020 erschienenen, fast 500 Seiten starken und akribisch recherchierten Biographie von Julia Voss („Hilma af Klint. Die Menschheit in Erstaunen versetzen“) oder auch dem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2019 („Jenseits des Sichtbaren“).
Für den Herbst 2023 ist darüber hinaus ein Kinofilm von Lasse Hallström angekündigt (in dem der unter anderem aus der Serie „Game of Thrones“ bekannte deutsche Schauspieler Tom Wlaschiha Rudolf Steiner darstellt). Außerdem bieten in diesem und dem kommenden Jahr gleich zwei Ausstellungen Gelegenheit, das ungewöhnliche Werk von Hilma af Klint in der direkten Anschauung kennenzulernen: „Forms of Life: Hilma af Klint & Piet Mondrian“ (aktuell in der Tate Modern in London, bis 3. September, im Anschluss im Kunstmuseum Den Haag, 7. Oktober bis 25. Februar 2024) sowie „Hilma af Klint und Wassily Kandinsky: Träume von der Zukunft“ in den Kunstsammlungen NRW in Düsseldorf (16. März bis 11. August 2024).