Gutes Karma

Ob man von Reinkarnation und Karma überzeugt ist oder nicht, das ist vor allem eine Frage der persönlichen Überzeugung. Neuerdings wird jedoch mitunter versucht, dem Gedanken von Wiederverkörperung und Schicksal eine gefährliche Ideologie unterzuschieben. Worum geht es da?

Glück und Leid sind die beiden Pole, zwischen denen sich alles menschliche Leben entfaltet. Oft sind sie keineswegs gleich verteilt. Wir hadern mit unserem Schicksal, so sagt man, wenn uns ein Unglück trifft. Es kommt plötzlich, zufällig – wie auch das Glück oft ganz überraschend in unser Leben tritt. Manche sprechen von günstigen Synchronizitäten, durch die ihr Leben entscheidend verändert wurde, manche von Schicksal oder Karma. Es sind Versuche, dasjenige, als dessen blinde Opfer wir uns sonst fühlen, für uns annehmen zu können, beim Guten wie beim Schlechten.

Das Prinzip von Wiederverkörperung und Schicksal (Karma) ist eingebettet in die Annahme, dass es etwas in uns gibt, das den Tod überdauert. Das wird auch in vielen Religionen gelehrt. Eine Essenz des Menschen, seine Geist-Seele, war bereits vor dem diesmaligen Leben in anderer Form verkörpert und wird es nach dem Tod wieder sein – so sieht es die Anthroposophie. Eine zweite Annahme besteht darin, dass der Sinn dieser Wiederverkörperungen in unserer Weiterentwicklung liegt; im Sinne einer höheren Weisheit (meines eigenen, höheren Wesens?) treffe ich im Leben wieder auf die Spuren eigener vergangener Taten, um daran zu wachsen. Karma ist eine umfassende Lebensanschauung mit dem Grundtrieb zur Freiheit in Verbundenheit.

In verschiedenen TV-Formaten jüngeren Datums (Böhmermann, Breyer), in Podcasts und auch in dem vielzitierten Buch Gefährlicher Glaube von Pia Lamberty und Katharina Nocun (2022) wird der Karma-Gedanke neuerdings in eine negative Ecke gerückt. „Man denkt, es gebe eine höhere Macht in der Welt, die eine Art übergeordnete Gerechtigkeit erzeugt“, schreiben die beiden Autorinnen, als wäre bereits die Annahme einer „höheren Macht“ politisch unkorrekt. „Ein solcher Ansatz kann allerdings leider manchmal menschenverachtende Züge tragen“, schreiben die Autorinnen weiter. „Das Karmakonzept kann nämlich auch wie folgt gedeutet werden: ‚Wer Schlechtes tut, dem widerfährt Schlechtes.‘ Krankheiten sind dann plötzlich selbstverschuldet.“ „Menschenverachtend“ – der Vorwurf könnte vernichtender nicht sein.

Ursache – Wirkung – Ursache

Warum hat der Gedanke, dass zumindest ein Teil meiner Lebensumstände mit meinem Verhalten in einem vorangegangenen Leben zu tun haben könnte, ein derartiges Skandal-Potenzial? Wir wissen und akzeptieren es im Allgemeinen, dass jede Ursache eine Wirkung hat und dass allem, was Wirkung ist, auch eine Ursache vorangeht – das gilt in der Physik ebenso wie im menschlichen Leben. Solange man sich auf die eine biografische Existenz beschränkt, wird der Gedanke kausaler Verknüpfungen kaum Widerspruch auslösen: Wenn ich mich einseitig ernähre, hat das Folgen für meine Gesundheit; wenn ich meine Mitmenschen schlecht behandle, werden sie sich von mir abwenden. Verfehlungen ab einem gewissen Grad rufen die irdische Gerichtsbarkeit auf den Plan, deren Konsequenzen ich mich stellen muss.

Solche Zusammenhänge sind leicht durchschaubar. Bei karmischen Zusammenhängen ist die Lage komplexer. Denn den Ereignissen meines Lebens sehe ich es nicht ohne weiteres an, ob sie mit Folgen aus früheren Leben zu tun haben. Was ist hier Wirkung, was ist Ursache?  Das ist umso weniger eindeutig, als ständig auch andere Menschen mit ihren Intentionen in mein Leben hineinwirken. Wenn ich beispielsweise Opfer eines Raubüberfalls werde, muss ich dies nicht notwendigerweise einem Ereignis in meiner karmischen Vergangenheit als Ursache zuschreiben, nach dem Motto: Ich habe das durch früheres Handeln selbst verursacht. In jedem Augenblick sind ja – weil es Freiheit gibt – bei mir und anderen neue, nicht vorausbestimmte Handlungen, also neue Ursachen möglich, mit guten und schlechten Wirkungen. So gesehen könnte sich, wenn man Karma für möglich hält, ein Gewalttäter mit seinem Überfall (abgesehen von den strafrechtlichen Folgen) für die Zukunft neues Karma schaffen, in dem er sich dann selbst mit den Folgen seines Verhaltens so konfrontiert, das ein Ausgleich möglich würde. Die Straftat wäre dann also keineswegs „notwendig“ gewesen als Wirkung aus der Vergangenheit heraus, aber ihre Folgen könnten Notwendigkeiten in die Zukunft hinein schaffen. Wie diese genau aussehen, kann ich nicht wissen.

Karma ist also keine geschlossene Kausalkette, denn das würde ein komplett mechanistisches Weltbild voraussetzen. Ich war erstaunt als ich in der entsprechenden Rowohlt-Monographie las, dass schon Buddha sich seinerzeit gegen solche Verkürzungen gewendet hat, weil sie einem bloßen Fatalismus gleichkämen. Jede freie Bemühung um eine Weiterentwicklung wäre sinnlos, wenn alles bereits festgelegt wäre. Leider hat unser Verstand aber eine starke Affinität zum mechanischen Denken. Wenn dann jemand meint, zu einer vermeintlich höheren Erkenntnis karmischer Zusammenhänge zu gelangen – aber eben schlussfolgernd und pauschal – dann können tatsächlich Urteile entstehen, bei denen man die Ebenen vermischt: Dann müssen Opfer grundsätzlich an ihrem Leid „schuld“ sein, weil Karma eben so „funktioniert“.

Krankheit und Karma

Reinkarnation und Karma spielen in einer Dimension lebendiger Weisheit, die man mit dem Verstand und dumpfen Gemütsurteilen nicht erreicht. Wenn ich das ernst nehme, ist auch Umsicht geboten im Umgang mit einigen überlieferten Äußerungen Rudolf Steiners über den Zusammenhang von Karma und Krankheit. Steiner hat vereinzelt über die karmischen Bedingtheiten einiger (längst nicht aller!) Krankheiten gesprochen, beispielsweise wenn er ausführte: „So können wir drei aufeinanderfolgende Inkarnationen in ihren Wirkungen karmisch verfolgen: Oberflächlichkeit und Flatterhaftigkeit in der ersten Inkarnation, Hang zur Lügenhaftigkeit in der zweiten und physische Krankheitsdisposition in der dritten Inkarnation. Da sehen wir Karma an Gesundheit und Krankheit arbeiten.“ (Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120, Vortrag vom 18. Mai 1910) – Solche Zusammenhänge über moralische Defizite, die sich inkarnationsübergreifend in organischen Defekten niederschlagen sollen, rufen verständlicherweise Irritationen hervor. Für mich selbst gebietet die innere Redlichkeit, dass ich eine solche Aussage, die ja nicht meine eigene Erkenntnis darstellt, nicht lehrhaft verbreiten oder zur Beurteilung anderer Menschen heranziehen kann. Ganz grundsätzlich ist der Umgang mit dem Gedanken des Karma für mich eine so persönliche und sensible Angelegenheit, dass jede von außen kommende Diagnose mir fehl am Platz erscheint. Gerade wenn es um Krankheiten oder andere schwere Schicksalsereignisse geht, kann ich mich – wenn überhaupt – nur selbst zu einem Punkt entwickeln, an dem ich vielleicht irgendwann sagen kann: „Das ist mein Karma“.

Kritiker:innen fürchten, dass „karmische Diagnosen“ zur Verurteilung und Lieblosigkeit gegenüber Hilfsbedürftigen werden können – sie seien ja „selbst schuld“. Diese Befürchtung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn allzu leicht könnte der äußere Verweis auf Karma eine innere Beziehung zu Hilfebedürftigen gar nicht richtig entstehen lassen. Gerade davor hat aber Steiner selbst gewarnt, als er mahnte: „Das muss sich der Anthroposoph klarmachen, dass das Karma dieser Menschen nichts zu tun hat mit dem, was er tun darf, und dass er etwa einem Menschen nicht helfen dürfte, weil er – trivial gesprochen – an das Karma glaubt, dass der Mensch dieses Schicksal selbst herbeigeführt habe. Das ist es gerade, wozu uns das Karma auffordert: dass wir den Menschen helfen, weil wir sicher sein können, dass unsere Hilfe dann für den Menschen etwas bedeutet, was in sein Karma eingeschrieben wird, und wodurch sein Karma in eine günstigere Richtung kommt. Gerade zum Mitleid muss uns das Durchschauen der Welt führen, das auf Karma begründet ist.“ (Rudolf Steiner GA 107, S. 178ff., Hervorhebungen JH) Es ist eindeutig: Wer den Gedanken von Karma einbezieht, muss in seiner Mitleidsfähigkeit wachsen.

Karma ist keine Strafe

Ein weiterer Aspekt scheint mir wichtig. Steiner selbst spricht im Zusammenhang mit Karma gar nicht von „Strafe“. Erst mit diesem Begriff lässt sich das Karma-Motiv skandalträchtig aufladen. So etwa hat Dietrich Krauss, Autor und Redakteur der ZDF-Sendung Die Anstalt, im Oktober 2022 in einem Podcast der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg gesagt, es gebe „anthroposophische Behinderteneinrichtungen, die betrachten Behinderung als eine Strafe von Fehlverhalten aus dem letzten Leben. Also das ist so eine menschenfeindliche Ideologie und dass man solchen Leuten offiziell die Betreuung von gehandicapten Menschen übergibt, das finde ich einfach fahrlässig.“ Hier wird Empörung geschürt, die offen den Bestand einer seit Jahrzehnten anerkannten und wohltätigen Bewegung infrage stellt.
Die hier unterstellte Vorstellung von Krankheit als „Strafe“ war indessen in religiösen Kontexten aller Art erstaunlich tief verankert, auch im konfessionellen Christentum. In der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen beispielsweise wird Jesus gefragt, für welche Sünden denn der Blindgeborene oder seine Eltern von Gott bestraft würden. Im christlichen Kontext lebte die Rede von der Krankheit als Strafe noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fort. Im anthroposophischen Karma-Verständnis kommt sie nicht vor.

Karma als Vertiefung der Würde

So sehr also die kausale Verknüpfung von Krankheit oder Behinderung und Karma mit Vorsicht zu behandeln ist, so hilfreich und motivierend kann das grundlegende, im Konkreten aber offen bleibende Einbeziehen der Idee der Wiederverkörperung für Pädagog:innen und Therapeut:innen sein. Es kann die Perspektive öffnen, eine begegnende Individualität in einen potenziell größeren Zusammenhang zu stellen und sie als selbstbestimmte Persönlichkeit mit einem tiefer verwurzelten Wesenskern zu sehen: „Dieses Schulkind vor mir kommt bereits mit einer eigenen Geschichte, mit eigenen Intentionen und bringt Fähigkeiten und Aufgaben in dieses Leben mit.“ Das kann den Respekt vor der Einzigartigkeit und auch vor den Eigenarten des Anderen stärken, ohne dass ich konkrete karmische Einzelheiten dazu überhaupt kennen müsste. Ebenso ist ein behinderter Mensch auf jeden Fall zunächst diese einzigartige Individualität, die ich aufgrund ihres Menschseins mit dem größten Respekt behandeln werde; das Einbeziehen von Wiederverkörperung öffnet mir darüber hinaus die Perspektive, es mit jemandem zu tun zu haben, der mit körperlichen und seelischen Einschränkungen versehen ist, in dessen Wesenskern aber ein unbeeinträchtigter Geist lebt, mit dem mich etwas Tieferes verbindet; dass wir uns begegnen ist kein Zufall.

Die Idee von Wiedergeburt und Karma wirkt – zumindest im Westen – immer noch neu und ungewohnt, auch wenn sie auf populäre Weise längst in das allgemeine Denken eindringt. Aber ihre eigentliche Wirkungsebene entzieht sich dem Verstandesdenken, das sich noch viele Beulen an einer viel tiefer wirksamen Geistigkeit zuziehen wird. Sie birgt aber ein großes Potenzial, die Werte von Freiheit, Würde und Verantwortlichkeit weiter zu vertiefen. Auch die drängende ökologische Frage stellt sich noch einmal radikaler, wenn wir uns darüber klarwerden, dass alle Folgen unseres Handelns buchstäblich auf uns selbst zurückfallen. Vergangenheit und Zukunft begegnen sich – jetzt. ///

Über den Autor / die Autorin

Jens Heisterkamp

Jens Heisterkamp, geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.