Eine vertraute Zukunft

Autor Jason Hickel / Foto: Dani Pujalte

Buchrezension: Jason Hickel wirbt für eine post-kapitalistische Welt.

Von Johannes Kiersch

Wer über die problematischen Verhältnisse nachsinnt, in denen wir zur Zeit leben und die in den Medien jeden Tag beklagt werden, wird gern nach dem Buch des britischen Wirtschaftsanthropologen Jason Hickel greifen. Er entzaubert den Wachstumswahn unserer gegenwärtigen kapitalistisch organisierten Welt und plädiert für einen umfassenden „degrowth“ (das Gegenteil von „growth“, dem anhaltenden Wachstum), für die Einschränkung aller wirtschaftlichen Aktivitäten auf das Notwendige und auf das wirklich Hilfreiche. Auf der Basis wissenschaftlicher Studien zeigt Hickel, wie das immer noch für unverzichtbar gehaltene System sinnloser Überproduktion in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher aufzehrt, was die natürliche Welt hergeben kann. Hickel beginnt mit einem Blick auf einen besonders rabiaten und folgenreichen Eingriff des Menschen in das natürliche Gleichgewicht der Lebewesen: das Ausrotten von weit mehr als der Hälfte aller Insekten in der Welt durch die rücksichtslose Industrialisierung der Landwirtschaft und die Folgeschäden. „Wir haben vergessen“, schreibt er, „wie man auf die Beziehung zwischen den Dingen achtet. Insekten, die für die Bestäubung nötig sind; Vögel, die Pflanzenschädlinge in Schranken halten, Larven und Würmer, die für die Bodenfruchtbarkeit unabdingbar sind; Mangroven, die das Waser reinigen; die Korallen, von denen Fischpopulationen abhängen: Diese lebenden Systeme sind nicht irgendwo ‚da draußen‘, abgetrennt von der Menschheit. Ganz im Gegenteil: Unsere Schicksale sind miteinander verflochten. Sie sind eigentlich wir selbst.

Vor allem macht Hickel auf die ideologischen Hintergründe des Systems aufmerksam. Und damit trifft er einen entscheidenden Punkt. Er aktualisiert die bedeutende Entdeckung, die im Jahr 1978 dem tschechischen Dissidenten Václav Havel gelungen ist. Dieser hatte in seinem Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben die staatliche Ordnung, unter deren Druck er zu leben hatte, als säkularisiertes Religionssystem beschrieben, dessen Macht nicht allein auf brutaler Gewalt beruhe, sondern auf der heiligen Tradition der internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Propheten, ein System, das aus Behauptungen und eingespielten Gewohnheiten bestehe, die mit der Zeit jeden Bezug zur Wirklichkeit des menschlichen Zusammenlebens verloren haben. Dieses System verfange sich nach und nach in einer „Eigenbewegung“, die in absehbarer Zeit ganz von selbst stehen bleiben werde. Man brauche, so Havel damals, dagegen nicht zu schießen. Aber es lohne sich, die Zeit danach vorzubereiten. Zehn Jahre später war Václav Havel nach der „samtenen Revolution“ in Prag der Staatspräsident seines Landes.

Was Havel nur vermuten konnte, haben wir heute deutlich vor Augen. Wie er haben wir es mit einem ideologischen System zu tun, das jetzt an seine Grenzen gerät und stehenbleiben wird wie das System der Ostländer zur Zeit der „Wende“. Jason Hickel liefert ausführlich begründete Informationen dazu. Immer wieder kommt er auf die Trennung von Mensch und Welt zu sprechen, den „Cartesian Split“, der auf Galileo Galilei, auf René Descartes und vor allem auf Francis Bacon zurückgeht und der das neuzeitliche Weltbild so verhängnisvoll mechanisiert und die Natur zum Objekt schrankenloser Ausbeutung degradiert hat.

In seinem vorletzten Kapitel breitet Hickel eine Reihe von „Pfaden in die postkapitalistische Welt“ aus: „Es geht hier nicht um das Fiasko eines Systems von Befehl und Kontrolle, wie in der Sowjetunion, und auch nicht um ein Zurück in die Höhlen im härenen Gewand der freiwilligen Verarmung. Ganz im Gegenteil: Es geht hier um eine Wirtschaft, die sich in wesentlichen Punkten vertraut anfühlt, insofern als sie so aussieht, wie wir uns Wirtschaft normalerweise vorstellen … eine Wirtschaft, in der die Menschen für ihre Arbeit gerecht entschädigt werden; eine Wirtschaft, die die menschlichen Bedürfnisse befriedigt und dabei möglichst wenig verschwendet; eine Wirtschaft, die das Geld an die Menschen weiterleitet, die es brauchen; eine Wirtschaft, in der Innovation bessere, langlebigere Produkte erzeugt, den ökologischen Druck reduziert, Arbeitszeit freisetzt und die gesellschaftliche Wohlfahrt verbessert; eine Wirtschaft, die auf die Gesundheit der Ökologie, von der sie abhängt, Rücksicht nimmt, anstatt sie zu ignorieren.“

Besonders bemerkenswert fand ich in Hickels Beschreibung, was er über die „Macht der Demokratie“ denkt. Diese sei durch plutokratische Machenschaften akut gefährdet, besonders in den USA. Seine Schlussfolgerung: „Wenn unser Kampf für eine ökologischere Wirtschaft Erfolg haben soll, müssen wir uns für eine Stärkung der Demokratie einsetzen, wo immer es geht. Das bedeutet die Verbannung des großen Geldes aus der Politik; das bedeutet radikale Medienreform; strenge Gesetze zur Wahlkampffinanzierung; die Umkehrung der Unternehmenspersonalität …. die Demokratisierung der Institutionen der Weltordnungspolitik; und die Verwaltung der gemeinsamen Ressourcen als Gemeingut, wo immer das möglich ist.“

Maja Göpel, die in ihrem Bestseller Unsere Welt neu denken von 2020 sehr ähnlich argumentiert, lobt in ihrem Vorwort zu Hickels Buch dessen Scharfsinn: „Selten ist mir“, schreibt sie, „eine so starke Kombination von Datenselektion und deren argumentativer Einbindung begegnet.“ So mögen wir uns im Interesse unserer Nachkommen von dem bemerkenswerten Buch erfrischt und gestärkt fühlen. Auf eine unmittelbare Wirkung dürfen wir nicht hoffen. Das System, in dem wir widerwillig überleben, wird sich durch Argumente nicht beeindrucken lassen, und es wird nicht so friedlich zugrundegehen wie Havels System im Jahre 1989. Es wird in apokalyptischen Zuständen stecken bleiben. Aber gerade deshalb ist es angebracht, sich über die Zeit danach Gedanken zu machen.

Jason Hickel: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. 352 Seiten, gebunden, München 2022, € 24.

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