Eine Ethnosophie der Fastnacht

Historische Kostüme beim "Narrensprung" in Rottweil / wikimedia

Karneval ist eines der größten Volksfeste der Welt: Närrische Menschenmassen tollen, toben und treiben Schabernack, trinken, tanzen und trecken durch die Straßen. Obwohl das alles in diesem Jahr nur begrenzt stattfindet, lohnt die Frage, wo das närrische Treiben eigentlich seinen Ursprung hat.

Von Thomas Höffgen

Ob man Karneval nun liebt oder hasst, anerkennen muss man allemal, dass es sich dabei um eine Brauchtumstradition handelt, die in der menschlichen Kulturgeschichte seit Jahrtausenden eine zentrale Rolle spielt – die Fastnacht zählt zu den ältesten Kulturdenkmälern der Welt.

Kulte, bei denen man sich verkleidet, sind so alt wie die Menschheit: Schon in der Steinzeit maskierte man sich zu gewissen Zeiten mit Tierfellen, Hörnermasken und Pflanzenwerk, schminkte sich mit Naturfarben und musizierte mit Naturtoninstrumenten, Trommel, Flöte oder Mundbogen. Die ältesten Überlieferungen von Menschen, die sich verkleidet haben, stammen aus dem Jungpaläolithikum und sind rund 30.000 Jahre alt: Höhlenmalereien von Hirsch- und Stiermenschen (Trois Frères), Bärenmenschen (Mas d’Azil), Pferdemenschen (Espélugues) und Bisonmenschen (La Gabillou); aber auch die zeitgenössischen Kleinkunstwerke und -skulpturen stellen Verkleidete dar, etwa der berühmte Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel (Schwäbische Alb). 

Mittlerweile weiß man, dass es sich bei diesen Darstellungen um Abbildungen von Schamanen handelt, steinzeitlichen Zauberpriestern, die sich mit Tierfellen maskiert haben und einen Trancetanz aufführen, um sich im Geiste mit eben diesen Tieren zu verbinden und deren Eigenschaften auf sich zu übertragen. Diese archaische Vorstellung, dass Menschen sich in Tiere verwandeln können, wie sie etwa auch dem Werwolfsglauben zugrunde liegt, nennt sich Totemismus und markiert offenbar den kulturanthropologischen Ursprung der Fastnacht. Über die Jahrtausende hinweg hat sich daraus ein bunter Blumenstrauß karnevalesker Kulte, Riten und Bräuche gebildet.

Kirchen- und Ketzerfest

Zwar wird die Fastnacht – schon dem Namen nach – im Sinne der christlichen Liturgie immer wieder mit dem letzten Tag oder den letzten Tagen vor der 40-tägigen Fastenzeit vor Ostern in Verbindung gebracht und man liest das Wort „Karneval“ von lat. carne levare als „Wegnahme des Fleisches“. Allerdings haben bereits die Sumerer – dreitausend Jahre vor Christus – ein karnevaleskes Fest gefeiert, das alle Wesenselemente der modernen Fastnacht aufweist, bei dem die Menschen sich verkleideten und die gesellschaftlichen Stände aufhoben oder umkehrten: „Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet“ (altbabylonische Inschrift).

Aber auch die vorchristlichen Europäer, Griechen, Römer, Kelten, Germanen, Slawen, Balten und so weiter begingen zahlreiche Verkleidungskulte, die als Vorläufer der modernen Fastnacht gelten. Karneval ist ursprünglich also kein christliches, sondern ein heidnisches Fest. Weshalb sonst hätte die Kirche in der Vergangenheit so oft Karnevalsverbote aussprechen und das „Vermomben, Verstuppen und Vermachen“ unter Strafe stellen sollen? Noch im Narrenschiff von 1494von Sebastian Brant heißt es über die Fastnacht: „Ja, Schrift und Lehre sind verach’t. / Es lebt die Welt in finstrer Nacht / Und tut in Sünden blind verharren; / Alle Gassen und Straßen sind voller Narren“.

Vielmehr leitet sich die Bezeichnung „Fas(t)nacht“ nicht von fasten her, sondern von fasen/faseln (mhd. vasen, ahd. fasôn: „umherirren, umherschwärmen“), und zwar „mit der ursprünglichen Bedeutung von Schwarmfest“ (Reallexicon der deutschen Altertümer). Der Name bezieht sich auf das wilde heidnische Treiben, wie es etwa bei den Maskenspielen um den Griechengott Dionysos der Fall war. Noch im 18. Jahrhundert heißt es: „Es ist außer Zweifel, dass die tollen Fastnachtslustbarkeiten ihren Ursprung von den Heiden haben, welche dem Bacchus zu Ehren gewisse Tage dem Fressen, Saufen, Unzüchten und allerley Ausschweifungen gewidmet haben“ (Real-Wörterbuch aller Künste). Das Wort „Karneval“ wiederum lässt sich leichterdings mit einem vorchristlichen Frühlingskult zusammenbringen, bei dem ein geschmückter „Schiffskarren“ – lat. carus navalis – zum Flursegen über die Felder gezogen wurde, ein heidnisches Narrenschiff: Die alten Römer huldigten so dem Saatengott Saturnus, die antiken Griechen weihten ihren Wagen dem Dionysos und die Germanen schmückten einen Karren zu Ehren ihrer Göttermutter Nerthus: „Dann folgten frohe Tage; festlich geschmückt sind alle Orte, denen die Göttin die Huld ihrer Ankunft und Rast gewährt“ (Tacitus: Germania 40).

Karneval im alten Europa

„Alle karnevalsartigen Feste finden zur Wintersonnenwende statt“, heißt es im Metzler Lexikon Religion. Tatsächlich kennt der alte europäische Karnevalskalender vielerlei Verkleidungskulte, die sich allesamt in der dunklen Jahreshälfte abspielen, welche in der Wintersonnenwende kulminiert: Zwischen Winteranfang und Frühlingsanfang beging man Maskenfeste, um den Winter auszutreiben, Naturrituale, um das Neujahr zu begrüßen, Fruchtbarkeitskulte, um den Frühling anzulocken.

Karneval ist ein Konglomerat verschiedener Kulte und Kulturen, die sich im Altertum durch ganz Europa zogen – vom keltischen Samhain zum alten Winteranfang in den ersten zwölf Novembernächten (man denke an den 11.11.) über die römischen Saturnalien zur Wintersonnenwende mit Umkehrung der alltäglichen Normen (schon Goethe und Freud verglichen die antiken Saturnalien mit dem modernen Karneval) und die altgermanischen Masken- und Ekstasekulte in der Rauhnachtzeit (bis heute wird die „wilde Jagd“ im Alpenraum begangen) hin zu den antiken Lupercalien Mitte Februar mit wilden Verkleidungs- und Fruchtbarkeitskulten sowie rituellen Umzügen um den Palatin (die Teilnehmer verwandelten sich vornehmlich in Werwölfe, vgl. lat. lupus: „Wolf“).

Zahlreiche dieser heidnischen Naturrituale leben bis heute fort, wenngleich ins Profane abgesunken. Zum Beispiel leitet sich die Tatsache, dass bunte Blumen in der Fastnacht eine Schlüsselrolle spielen – Nelkensamstag, Tulpensonntag, Rosenmontag, Veilchendienstag – von einem alten Frühlingsritual der vorchristlichen Römer ab: Für das ländliche Fest Floralia im April – zu Ehren der antiken Pflanzengöttin Flora – wurde das ganze Dorf mit Blumen geschmückt und man trug bunte Blumentracht. Dann zog man mit Weidenkörben voll mit Blüten umher und überstreute seine Mitmenschen damit. Ein naturmagischer Blütensegen der Frau Flora, aus dem sich der wohlbekannte Brauch, zur Fastnacht mit „Konfetti“ und „Kamelle“ zu schmeißen, entwickelt hat.

Philosophie der Fastnacht

Auf den ersten Blick mag Fastnacht als ein Fest erscheinen, in dem es wild, wirr und willkürlich zugeht. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn das Fest folgt einer ausgefeilten Philosophie. Es verhält sich mit ihm wie mit der Zentralfigur der Fastnacht selbst, dem Narren, dem Eulenspiegel, der bekanntermaßen nur den Dummen spielt, in Wirklichkeit jedoch an Geisteskräften überlegen ist.

Gemein ist allen heidnischen Verkleidungskulten, dass sie – der Jahreszeit entsprechend – auf eine Grenzerfahrung abzielen: Zunächst einmal die Überwindung kollektiver Konventionen, der bewusste Bruch mit der sozialen Ordnung und die Perversion gesellschaftlicher Strukturen. Die bürgerliche Welt wird regelrecht ins Chaos gestürzt, wenn Könige zu Sklaven werden und Bettler die Befehle geben. Aus dem Chaos aber entsteht der Kosmos. Der soziale Sinn der Fastnacht lässt sich mit der „Ventilfunktion“ erklären: Als bewusst initiierter und in einem rituellen Zeitraum eingeschlossener Tabubruch erfüllt die Fastnacht eine kompensatorische Funktion und wirkt auf paradoxe Weise wiederum systemstabilisierend – wer einmal im Jahr „Dampf“ ablässt, muss dies für den Rest des Jahres nicht mehr tun. Aber diese Umwertung gesellschaftlicher Werte macht nur einen Teil der Fastnacht aus. Genauso geht es nämlich um die Überwindung individueller, persönlicher und psychologischer (Hemm-)Schwellen, wenn Hausväter zu Helden und Hausfrauen zu Huren werden. Karneval ist ein metaphysisches Fest: Für den Ritualzeitraum verlassen die Verkleideten gewissermaßen die „Insel der Vernunft“ und wagen sich mit dem „Narrenschiff“ hinaus aufs Weltmeer, ins Unbekannte und Chaotische. In den archaischen Kulturen ging das so weit, dass sich die Ritualteilnehmer zu Tieren, Teufel oder Toten transformierten und das gewöhnliche Menschsein völlig verließen, freilich nicht aus Jux und Dollerei, sondern um wieder zu lernen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Für Nietzsche ist der Narr daher „zugleich Rausch- und Traumkünstler: als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäußerung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand, das heißt seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnisartigen Traumbilde offenbart“ (Die Geburt der Tragödie). ///

Dr. phil. Thomas Höffgen forscht im Grenzbereich von Philosophie, Philologie und Volkskunde. Er ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem: Karneval im alten Europa, Schamanismus bei den Germanen sowie Volkspoesie. Mehr zum Autor und Kontakt.

Dieser Text erschien in der Ausgabe 2/2021 der Zeitschrift info3.

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