„Die Corona-Maßnahmen sind in dieser Pauschalität nicht mehr zu rechtfertigen“

Harald Matthes. © Ronald Richter, Info3 Verlag
Prof. Dr. Harald Matthes ist Leiter des Krankenhauses Havelhöhe, Berlin. Foto: Info3

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs Mitte September gibt es laut dem Portal Worldometer in Deutschland rund 15.000 mit Covid-19 infizierte Menschen, viele davon symptomfrei, etwas mehr als 200 sind ernsthaft erkrankt – angesichts einer Bevölkerung von 83 Millionen Menschen eine verschwindend anmutende Zahl. Dennoch sprechen Vertreter*innen von Wissenschaft und Politik sowie fast alle Medien seit Wochen von einem wieder anwachsenden Corona-Infektionsgeschehen mit bedrohlichen Ausmaßen. Wir fragten den Mediziner Harald Matthes nach seiner Einschätzung der Lage.

Herr Matthes, wie erklären Sie sich das immer noch anhaltende Narrativ, wir hätten es mit einem steigenden Corona-Geschehen und immer noch mit einer Pandemie von nationalen Ausmaßen zu tun?

Wir haben zwei verschiedene Phasen bei der Pandemie zu berücksichtigen. Das eine war die Erstphase in einem Land, wo wir überall eine erhöhte Krankheitsrate hatten. Dabei gab es schon bald die Diskussion darüber, wie hoch eigentlich die Letalität, die Sterblichkeit von Covid-19 ist. Wie viele Menschen sterben tatsächlich an dieser Erkrankung? Diese Letalität war in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich, sie lag bei 1,2 bis maximal 3,7 Prozent der Erkrankten, in Deutschland lag sie zwischen 0,3 und 0,8 Prozent – das ist eine Zahl, die leicht über der einer starken Influenza-Epidemie liegt. Aber sie liegt eben extrem weit unter den Todesraten, die andere Zoonosen – vom Tier auf den Menschen übergesprungene Viruserkrankungen – zeigen wie zum Beispiel Ebola. Von vornherein hatten wir also relativ niedrige Sterblichkeitszahlen, aber durchaus ernsthafte Krankheitsverläufe. Zwischen vier bis sieben Prozent der Infizierten mussten zu Beginn intensivmedizinisch betreut werden. Und wir hatten es sicher anders als bei der Influenza mit einem Patientenklientel zu tun, das multimorbide und älter war und mehrere Risikokrankheiten mitbrachte, das ist anders als bei einer Influenza, wo praktisch jedes Alter einen schweren Verlauf haben kann.

Und wie sieht es gegenwärtig aus?

Gegenwärtig liegt das Letalitätsrisiko bei nur noch 0,2 bis 0,3 Prozent, und wir wissen inzwischen, dass das ganze Geschehen nicht so sehr durch das Virus bestimmt ist, sondern durch den jeweiligen Wirt, den das Virus befällt. Da ist es aus meiner Sicht völlig unverständlich, warum Virologen, die ja das Virus untersuchen, immer noch die wesentlichen politischen Maßgaben bestimmen, während ja die klinische Einschätzung das Entscheidende ist: Wie viele Menschen werden tatsächlich krank? Der erste Lockdown wurde begründet mit der befürchteten Überlastung des medizinischen Systems. Wir hatten dann in der sogenannten ersten Welle eine maximale Auslastung von 15 Prozent der Intensivkapazitäten in Deutschland, wobei es einzelne Kreise mit etwas höheren Auslastungen gab. Gegenwärtig gibt es kaum noch Ausbrüche in Altenheimen, sondern eher in der jungen Bevölkerung. Anfangs hatten wir eine hohe Dunkelziffer von Infektionen, wo etwa 80 Prozent der Infizierten ohne Symptome und ohne Testnachweis blieben. Nun haben wir viele dieser früher Symptomlosen aus der Dunkelziffer als positiv Getestete. Weiterhin haben nur 15 Prozent der Infizierten Symptome und nur fünf Prozent erkranken schwer, sodass wir gegenwärtig überhaupt keinen Anlass zu großer Besorgnis haben. Trotz der Zunahme an positiven Testergebnissen sehen wir eine weitere Abnahme der schwer Erkrankten und Intensivpatient*innen und auch der Toten.

Wenn es sich so verhält, warum kommen wir dann aus der Alarm-Stimmung nicht wieder heraus? Das Robert Koch Institut spricht weiterhin von einer ernsten Lage, die Corona-Einschränkungen sind weiter in Kraft?

Auch Herr Drosten musste inzwischen fast die Hälfte seiner Aussagen revidieren, er musste lernen wie wir alle, wir mussten uns vom Infektionsgeschehen belehren lassen, mussten Erfahrungen machen. Medizin ist eine empirische Wissenschaft. Gerade in der Intensivmedizin haben wir viel gelernt über die schweren Verläufe. Die politischen Maßnahmen waren aber nie risikostratifiziert und die Risiken wurden bis heute nie differenziert. Im Gegenteil gibt es sogar Forderungen, alle Maßnahmen müssten bundesweit einheitlich sein, was ja in Richtung Gleichmacherei geht. Und was ich am meisten kritisiere, ist, dass die Maßnahmen für alle Bevölkerungsteile gleich gelten sollen. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass Kinder unter neun Jahren so gut wie nie einen schweren Verlauf haben und dass es auch keinen Beleg dafür gibt, dass sie ihre Lehrer anstecken – dann muss ich für diese Altersgruppe nicht die gleichen Maßnahmen ergreifen, als wenn ich im Altenheim einen Covid-19-Ausbruch verhindern will. Im Sozialen gibt es kein kategorisches Richtig oder Falsch, sondern hier gilt das Kriterium der Angemessenheit. Und das ist mittlerweile verletzt. Wenn es in der ersten Phase der Pandemie das Ziel war, eine Überlastung der Intensivkapazitäten zu verhindern und wir jetzt die Erfahrungen haben, dass es in dieser Hinsicht keine Bedrohung war und gegenwärtig auch nicht mehr ist, dann lassen sich die Corona-Maßnahmen in dieser Pauschalität nicht mehr rechtfertigen. Es zeigt vielmehr, wie wenig lernend und risikostratifizierend die Politik derzeit unterwegs ist.

Sie haben eben die Kinder angesprochen als wenig gefährdete Gruppe. Anfang September hat nun Johannes Hübner, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, gefordert, Kinder gegen Grippe impfen zu lassen. Das sei – Zitat „in Zeiten der Corona-Pandemie auch eine gesellschaftliche Verpflichtung zum Schutz anderer“. Die WHO empfiehlt die Impfung ab dem sechsten Lebensmonat. Was halten Sie von solchen Strategien?

Sie sind sicher nicht evidenzbasiert im Sinne einer wissenschaftlich fundierten Medizin. Ich empfehle dazu ein gutes Papier der Gesellschaft für evidenzbasierte Medizin, die zu anderen Schlüssen kommt und auch diese Empfehlung von Herrn Hübner kritisch hinterfragt. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass, wenn wir gegen Influenza impfen, wir damit etwas Gutes tun gegen Corona. Die Empfehlung der Kinder-Grippe-Impfung ist pathogenetisch gedacht, nach dem Motto: wenn ich eine Impfung gegen Grippe habe, soll ich sie auch einsetzen. Dass das Virus vielleicht bereits attenuierte, das heißt weniger schwere Verläufe induziert und eine geringere Letalität hat, und dass vielleicht eine Herdenimmunität in der jungen Bevölkerung gegebenenfalls möglich wäre, ist weiterhin gar kein politisches oder öffentliches Thema mehr. Die Gesellschaft für evidenzbasierte Medizin zeigt sehr deutlich in ihrer aktuellen Stellungnahme auf, dass die Pandemiebekämpfung sich an vielen Stellen von wissenschaftlichen Grundsätzen und damit evidenzbasierter Medizin entfernt hat und dass wir vielfach in ein politisierendes Fahrwasser gekommen sind.

Eine Anschlussfrage zum Thema Impfung: Die Regierung hat ja festgelegt – und viele Menschen aus Wissenschaft und Medien sind der gleichen Auffassung – dass die Pandemie erst zu Ende sein wird, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht. Wie beurteilen Sie das?

Diese Strategie hat keinerlei wissenschaftlichen Hintergrund, sondern ist Ideologie. Auch die Influenza kann man ja nicht mit einer Impfung ausrotten. Wir wissen derzeit noch überhaupt nicht, ob es überhaupt eine effektive Impfung gegen Covid-19 geben wird, wie dauerhaft eine Impfung wäre und ob dann eine ausreichende Antikörperbildung vorliegt. Selbst wenn eine Impfung vorhanden ist, wissen wir noch nicht, was sie langfristig leistet. Davon abgesehen wird der Verlauf einer Pandemie an klinischen Parametern gemessen, von daher ist die Aussage, dass sie erst mit einem Impfstoff enden kann, rein ideologisch und verlässt sämtliche Argumentationen, die wir sonst bei Pandemien ansetzen.

Was wäre denn eine realistische Alternative zu den jetzt verordneten Beschränkungen – wie könnte ein Ausstieg daraus realistisch aussehen?

Die jetzt angeordneten Maßnahmen sind sicher für fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sinnvoll und notwendig, aber sie werden auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt, das ist nicht an den realen Risiken orientiert und das ist auch sozial nicht kompatibel. Und was umgekehrt erschrecken muss: Wir haben ja beispielsweise hier in Berlin eine Präventionsambulanz aufgebaut, wo entsprechende vorbeugende Corona-Abstriche gemacht wurden, da wurden vor allem Lehrerinnen und Lehrer und auch Schüler*innen getestet, wohingegen Altenpfleger*innen, die aus den Ferien zurückkamen und wieder in die Altenheime gingen, nicht zu der Testgruppe gehörten. Das ist unverantwortlich, wie hier populistisch nach medialer Lautstärke vorgegangen wurde. Wir könnten uns stattdessen fragen, wie wir die etwa zehn Prozent der besonders gefährdeten Bevölkerung effektiver schützen können. Bei den alten Menschen sollten wir Abstandsregeln und Maskentragen bei Besuchen beachten, bei der überwiegenden übrigen Bevölkerung kommen wir mit deutlich lockereren Maßnahmen aus, besonders in den Schulen. Und gerade was die wirtschaftlichen Folgen angeht, meine ich, dass wir weit mehr Schaden anrichten, als infektionspräventiv nötig ist. ///

Interview: Jens Heisterkamp

Dieser Text erscheint in der Oktoberausgabe der Zeitschrift info3. Unterstützen Sie engagierten Journalismus durch ein Abo!

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