Danke, Waldorf!

Schulklasse. © Johannes Denger, Info3 Verlag
Der Autor mit "seiner" Klasse. Foto: Karin Blüher

Das Jubiläumjahr 100 Jahre Waldorfpädagogik neigt sich dem Ende zu. Unser Autor, viele Jahre lang selbst als Waldorflehrer tätig, zieht noch einmal eine ganz persönliche Bilanz.

Als ich das Wort Freie Waldorfschule zum ersten Mal hörte, hatte ich die Assoziation einer Schule auf einer Waldlichtung, umgeben von einem schützenden Erdwall, wo die Kinder unter freiem Himmel auf Orff Instrumenten spielten. Ein bisschen wie in meinem Bilderbuch Die Häschenschule aus Kindertagen. Ein paar Jahre später saß ich als anthroposophisch ausgebildeter Heilpädagoge auf dem Schlossplatz in Stuttgart, las das rororo-Taschenbuch Angstfrei lernen – selbstbewusst handeln von Christoph Lindenberg, das ich mir eben in der Buchhandlung gekauft hatte, in einem Zuge durch und wusste: Ich will Waldorflehrer werden. Peter Lampasiak von der Waldorfschule Hannover fragte mich, ob ich bei der Gründung der neuen Schule in Hannover-Bothfeld mitmachen wollte. Unter seiner charismatischen Leitung und der seiner Frau Brigitte entstanden ein Schuldorf, Klassenhäuser unter Grasdächern, von den Eltern und Lehrern eigenhändig erbaut. Die Eltern spendeten neben Geld zwei Wochen ihres Jahresurlaubs dafür. Auf dem Bauspielplatz spielten die Kinder, in der Jurte hing ein großer schwarzer Topf mit Suppe zur Stärkung und abends wurde gesungen und das Goethemärchen gelesen.

Erfüllte Pionierzeit

Die Eltern meiner Klasse wollten wissen, was Anthroposophie ist und so lasen wir über eineinhalb Jahre hinweg jeden Dienstagabend gemeinsam mit großem Interesse, kritischem Infragestellen und intensiven Gesprächen die Theosophie von Rudolf Steiner. 30 von 32 Elternhäuser waren in der ersten Zeit vertreten, am Ende noch zwölf. Später lasen wir dann Steiners Philosophie der Freiheit. Diese Erkenntnisarbeit wirkte sich sehr segensreich für die Entstehung einer Klassen- und der Schulgemeinschaft aus! Das Gründungskollegium nahm in den Herbstferien geschlossen an den Lehrertagungen des Bundes der Waldorschulen in Stuttgart teil. Das Ganze war eine Pioniersituation, die sich selbstverständlich so weder konservieren noch übertragen lässt.

Von den 32 SchülerInnen meiner ersten Klassenführung haben zwei Drittel Abitur gemacht. Die Kinder von damals sind heute unter anderem Gärtnerin, Tischler, zwei auch aus dem TV bekannte Schauspieler, (damals jüngster) Linienpilot Deutschlands, Architekt, Mitarbeiter beim TÜV, Anwältin, Notar, Maschinenbauingenieurin, Apothekerin, Arzt, Lehrerin, Hotelfachfrau, Reitstallbesitzerin u.v.a.m. – und vor allem engagierte Mütter und Väter, die ihre Kinder heute zum Teil wieder auf ihre alte Schule schicken. Es gehört zu den schönsten Erlebnissen als Klassenlehrer, wenn man seine ehemaligen SchülerInnen über die Zeit mehr oder weniger nah biographisch begleiten darf. Sie sind jetzt Mitte vierzig, in drei Wochen treffen wir uns wieder.

Das Positive überwiegt bei Weitem

Warum erzähle ich das hier? Nun, im zurückliegenden Jahr wurde landauf landab zu Waldorf 100 jubiliert, viele schöne Veranstaltungen fanden statt, tolle TV-Reportagen wie z.B. Waldorf global wurden gesendet, Karen Miosga machte in den Tagesthemen Eurythmie. Diese Waldorfmania, wie sie genannt wird, wurmt die Gegner und sie zählen einmal mehr auf: Die Kinder werden weltfremd und können nicht bestehen im Leben. Nur wenige schaffen das Abi. Die Eltern ahnen nicht, was an Anthroposophie dahinter steht. Die LehrerInnen sind sektenhaft gleichgeschaltet und so weiter und so fort. Meiner Lebenserfahrung mit der Waldorfschule – siehe oben – entspricht das nicht. Ich persönlich finde bei Rudolf Steiner viele anregende, manche großartige Gedanken. Mit manchem kann ich nichts anfangen, manches lehne ich ganz ab. Diese Leistung muss man als urteilsfähiger Zeitgenosse schon zu erbringen bereit sein – übrigens nicht nur bei Steiner. Das Positive überwiegt für mich bei Weitem. Wie sollte man sich auch sonst die Erfolge erklären? „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, gilt auch hier. Natürlich ist nicht alles gelungen! Weder mir noch der Waldorfbewegung, noch Rudolf Steiner. Selbstverständlich ist vieles auch kritikwürdig und auch ich habe neben der Wertschätzung für meine Arbeit Einiges eingesteckt. Recht so, so ist das Leben. Wie denn auch sonst?

„Herzengel“ Michael

Eindrücklich habe ich als junger Waldorflehrer die imponderable Wirkung meines Aufnehmens von Anthroposophie mit den Kindern meiner ersten Klasse erlebt. Für meine persönliche Vorbereitung auf Michaeli hatte ich die Michael-Imagination gelesen, die unter anderem vom makro- und mikrokosmischen Eisenprozess handelt, vom Eisen im Blut als Träger der Mut- und Tatkraft. Den Kindern hatte ich selbstverständlich nichts davon gesagt, vielmehr die Legende erzählt, wie Sankt Georg durch die Hilfe des Erzengels Michael den Drachen besiegt. Dazu haben die Kinder frei ein Bild gemalt. Einer meiner Schüler malte einen Engel mit einem großen Herzen auf der Brust und vier kleinen Herzen an den Hand- und Fußgelenken. Ich beugte ich mich anerkennend über sein Bild und sagte: „Schön! Aber warum hat der denn so viele Herzen – und warum an den Gelenken?“ „Du hast doch gesagt, Herzengel Michael! Und das ist da, wo das Blut klopft.“ Für mich war das ein überzeugendes Beispiel dafür, dass das, womit wir uns innerlich beschäftigen, auch ohne Worte auf unsere Umgebung wirkt.

Rätsel Kaspar Hauser

Waldorfschule ist nicht bloß Unterricht, sondern lässt die Kinder und Jugendlichen auch nicht alleine mit den existentiellen Lebensfragen. Wie aber könnte man Lebensgestaltung vielfältiger erüben, als durch Theaterspiel in den mit Leben zu erfüllenden Rollen! Im Laufe der Jahre konnte ich etliche Theaterstücke für meine Klassen schreiben. Höhepunkt war sicher das Stück für eine achte Klasse Aenigma – Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?, das inzwischen an vielen Waldorfschulen aufgeführt wurde. Was spricht sich im Schicksal Kaspar Hausers aus? Wenn wir absehen von der Prinzentheorie und anderen Hypothesen, rückt die Signatur von Kaspars einmaligem Lebensweg die allgemeinsten menschlichen Rätselfragen ins Bewusstsein: „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?“

Hic jacet
Casparus Hauser
Aenigma sui temporis
lgnota nativitas
Occulta mors

Hier ruht
Kaspar Hauser
Das Rätsel seiner Zeit
Unbekannt seine Geburt
Geheimnisvoll sein Tod

„lgnota nativitas“ gilt bezüglich des eigenen Erlebens für jeden Menschen! Wir finden uns im erwachenden Ich-Bewusstsein vor in dieser Welt, ohne aus eigener Erfahrung sagen zu können, wer wir sind. Aber auch „Occulta mors“ trifft für jeden Menschen zu. Niemand weiß, wann, wie und warum er sterben wird. Ist es nicht bewegend und rätselhaft, dass uns die einschneidendsten Ereignisse, das Tor der Geburt und das Tor des Todes bewusstseinsmäßig gewöhnlich nicht zugänglich, sondern nur für andere Menschen, die vor uns da waren oder uns überdauern werden, wahrnehmbar sind?

Das besondere Schicksal Kaspars, dass ihm niemand seine Herkunft verbürgen konnte und niemand weiß, wer ihm die tödliche Wunde zufügte und warum, macht diese allgemeinmenschliche Bedingung schmerzhaft deutlich.

Ob du Prinzessin
oder Prinz
wie manche sagen
oder ein unbekannter
Wechselbalg
wie andere sagen
bist
entscheiden nicht die anderen.
Ein Prinz ist
wer die eigene Wahrheit
sucht
und in ihr lebt
Gestalter
seines
Schicksals

Mit diesen Worten wird im abschließenden Sprechchor des Stückes ausgedrückt, dass die eigentlich moderne Prinzen-Menschen-Frage nicht nur durch traditionelle Herkunft (Vererbung) und auch nicht durch Meinungen und Reaktionen der Mitmenschen (Umwelt) beantwortet wird, sondern auch und vor allem durch das Individuum als Schicksalsgestalter seiner selbst. Mit dieser Lebensaufgabe lassen wir die Kinder und Jugendlichen nicht alleine.

Heute bin ich auf dem Altenteil und weiter über meinen Sohn Jakob (10) mit der Waldorfschule verbunden. Mit großer Dankbarkeit für diesen Ort und seine Menschen, die ihm helfen zu wachsen und zu gedeihen, genieße ich leise aus dem Hintergrund. Danke, Waldorf für Deinen umfassenden Kulturimpuls! Mein ganzes Leben wäre ärmer verlaufen ohne Dich. Danke!

Über den Autor / die Autorin

Johannes Denger

Johannes Denger ist Heilpädagoge, Waldorflehrer und Info3-Autor.