Capernaum – ein ergreifendes Werk der Empathie

Zwei Seelen ohne Heimat. Foto: Alamode Film

Ein Straßenkind verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt brachten, aber sich nicht um ihn kümmern. Nadine Labakis Film über ein Straßenkind in Beirut geht unter die Haut.

Wo Krieg geführt wird, herrschen Chaos und Unordnung. Dafür steht der Begriff Capernaum, der auf einen biblischen Grenzort an der Küstenstraße Syriens zurückgeht. Der Film spielt im aktuellen Beirut und begleitet hautnah das Schicksal von Menschen, die in sozial prekären Verhältnissen leben, keine Papiere besitzen und Kinder auf die Straße zum Arbeiten schicken. In eine solche Familie wurde der Junge Zain geboren – und dafür klagt er seine Eltern an. Zain ist „fast zwölf“, weiß es aber selbst nicht genau, denn er besitzt keine Geburtsurkunde. Der Richter fragt ihn zu Beginn des Films, weshalb er vor Gericht sei. „Ich habe einen Hurensohn erstochen und ich möchte meine Eltern verklagen, weil sie mich geboren haben.“

Die libanesische Regisseurin Nadine Labaki hat die Lage vieler Straßenkinder in Beirut beobachtet und stellt mit Capernaum die Frage nach Kinderrechten in einer Gesellschaft, die offenbar keine Verantwortung für deren Zukunft übernehmen kann. An Zains Geschichte wird deutlich, wie viel Gewalt ein korruptes System ohne Perspektive auf Bildung und Arbeit auslösen kann. Als seine elfjährige Schwester verheiratet wird, flieht Zain, erschüttert über die Tat seiner Eltern. Er trifft unterwegs auf eine junge Äthiopierin ohne Aufenthaltserlaubnis. Ihren einjährigen Sohn Yonas muss sie versteckt halten. Bei ihnen kann Zain erst einmal unterkommen, bis die junge Mutter verhaftet wird und die beiden zurücklassen muss. Wie einen Bruder zieht Zain den Kleinen in einem Küchentopf auf einem geklauten Skateboard durch die Straßen, um Geld für Babynahrung aufzutreiben. Als er gefragt wird, warum sein Bruder schwarz sei, antwortet er: „Wir sind alle schwarz geboren, später sind wir hell geworden.“ Solche Szenen zeigen Humor, der aber nicht künstlich aufheitern soll, sondern einen Teil der Realität des Jungen darstellt. Der Hauptdarsteller Zain trägt im Film seinen richtigen Namen und er spielt der Regisseurin zufolge nicht nur eine Rolle, sondern sein eigenes Leben.

Zain hat früh erkannt, dass „das Leben scheiße“ ist und dass seine Eltern unfähig sind, die eigenen Kinder zu unterstützen und zu lieben. In unzähligen Momenten erfährt man nicht nur etwas über das Leben im Slum, man erlebt, wie schmerzhaft es für einen Jungen mit Träumen sein muss, sich auf der Welt nicht erwünscht zu fühlen. Es wäre unsinnig, in all diesen Wirren eine Opfer-Täter-Dualität zu suchen. Der Film weckt nicht nur Empathie für die Kinder auf der Straße, sondern auch für die Eltern, die von außen betrachtet an der Erziehung scheitern. Die Gerichtszenen verdeutlichen, dass die Eltern auch an ihrem Schicksal verzweifeln und es nicht möglich ist, ihr Handeln ohne Bezug auf ihr „hart erkämpftes Leben“ zu reflektieren.

Nadine Labaki lässt Menschen sprechen, die sonst nicht zu Wort kommen. Sie erhofft sich durch den Film die Änderung von Gesetzen oder die Einführung von Präventionsmaßnahmen für Kinder. Solche Hoffnung ist nötig, um – an Ingeborg Bachmann angelehnt – sagen zu können: Ein Tag wird kommen, an dem wir frei, mit-einander frei sind.

Über den Autor / die Autorin

Andrea Kreisel

Andrea Kreisel hat Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke studiert und ist seit 2019 Autorin bei Info3.