Anschlag auf die Wirklichkeit

Der Berliner LKW-Anschlag wird uns noch lange beschäftigen. Eine Betrachtung über den Terror, die Liebe und das Ringen um Wirklichkeit.

Mitten im Auskosten vorweihnachtlicher Stimmung bei Gebäck und Getränken platzte die Nachricht herein. Wir saßen in der alten Dorfschule des in der DDR höchst bekannten Dichters Ehm Welk, in der auch sein Roman „Die Heiden von Kummerow“ spielt; hörten durch die vorlesenden Schauspieler und Einheimischen von den überschaubaren Konflikten dieser untergegangenen dörflichen Welt, die hier noch anzuwesen scheint in der hingewürfelten Anordnung der Häuschen, der Dorfkirche aus Feldstein zwischen gewundenen Straßen und kleinen Plätzen, vor allem aber in dem von Stille grundierten Beisammensein vor den Toren der lärmigen Stadt.
Das theater 89, das sich im namensgebenden Jahr noch vor der Wende aus dem Berliner Ensemble als freies Theater gegründet hatte, erarbeitet (wie es so seine Art ist seit annähernd 30 Jahren) mit professionellen Schauspielern und Musikern und Menschen aus der Umgebung eine zwölfstündige Openair-Aufführung der ersten Teile des Romans für den Sommer 2017 zur 725-Jahrfeier des Örtchens Biesenbrow bei Angermünde; eine Theaterfeier, die gleichermaßen Dorf und Einwohner wie auch den berühmten Dichterspross und dessen „Volkslied in Prosa“ umfasst, in dem der Gute nicht nur gut, der Böse manchmal gar nicht mehr so des Ablehnens würdig ist.
Wir waren zusammengekommen zur ersten öffentlichen Leseprobe am Montag nach dem 4. Advent. Und während ich mich an der heimeligen Wärme und dem inneren und äußeren Leuchten erfreute, wollte ich mal schauen, was die andere, die digitale Welt so zu bieten hätte. Wahrscheinlich nicht viel, vermutete ich in typischer Smartphone-Abhängigkeit.
Und Bumms! – traf mich der erste Hieb: die Nachricht, dass der russische Botschafter in der Türkei bei einer Ausstellungseröffnung erschossen worden sei. Der zweite erfolgte wenig später auf der abendlichen Heimfahrt über dunkle Brandenburger Straßen nach Berlin. Von italienischen Freunden erhielt ich über WhatsApp die Anfrage, ob es mir gut ginge. Es sei ein „Unfall“ passiert in Berlin. Dieser Unfall war der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt. Dass auch noch in Zürich in einer Moschee geschossen wurde, ging darin schon unter.
Während der letzten Etappe nach Hause mit der U-Bahn begegneten mir viele ernste Menschen mit offenen Gesichtern. Beinahe jeder verfolgte nebenbei die neuesten Entwicklungen auf dem Handy.
Berlin war ins Herz getroffen, las man in den Zeitungen. Doch Berlin hat jede Menge Herz(en), wenn auch kaschiert durch Schnauze, daraus bezieht es seine Auferstehungskräfte.
Sein Herz musste sich die Stadt  in der Heiligen Nacht noch einmal fassen, benommen noch von den zurückliegenden Ereignissen. Ein Obdachloser sollte abgefackelt werden. Sieben Jugendliche, Flüchtlinge, waren die herzlosen, schnell gefassten Täter. Was zuvorderst bedeutet: Sie kommen aus Ländern tief eingeschriebener Gastfreundschaft, in denen Armen viel selbstloser gegeben wird als in unseren Breitengraden. Es sind die Nachbarländer des Heiligen Landes, dessen christliche Geschichte mit einer Obdachlosigkeit beginnt und Anlass unserer Feierlichkeiten ist – Feiern, die in Materialschlachten ihr Herkommen mehr und mehr verleugnen.
Kriegen wir das jetzt unter die Nase gerieben? Stecken wir etwa mitten in einer computergenerierten Story?, frage ich in meinem Artikel Soziale und antisoziale Netzwerke im Januar-Heft von Info3. Die Probe aufs Zerstörerische der obsessiv genutzten digitalen Geräte und des Internet wurde schon vor den hier geschilderten Ereignissen fürs Jahr 2016 gemacht. Was wir dagegen setzten können, versuche ich dort zu erörtern. Zumindest geht es darum, die Wirklichkeit zurückzuerobern: durch Theater, durch echtes gemeinsames Feiern, durch Einfachheit und Schönheit. Wie und in welcher Form wir zu Letztgenannter wieder vorstoßen können, darüber wird die Februarausgabe von Info3 unter anderem mit einem Essay von Rüdiger Sünner über Jüdische Mystik in der Kunst und Philosophie des 20. Jahrhunderts berichten.
In Ehm Welks oben genanntem Roman diagnostiziert der alte Kantor Kannegießer gegen Ende „kindlichen Gerechtigkeitswillen zu Ehren der menschlichen Güte“ und stößt darüber ein Dankgebet aus: „Herr, Du lässest Dein Volk nicht untergehen!“
Ja, auch in Büchern leben wir in der Wirklichkeit!
Wäre das Befreien dieser Wirklichkeit aus den Klauen des Terrors nicht ein wundervoller Vorsatz fürs neue Jahr? Wir können sie auch als Liebe erfahren, über die der Dalai Lama sagt: „Die Liebe ist bei jeder Religion die Kernbotschaft, auch im Islam.“

Über den Autor / die Autorin

Ronald Richter

Ronald Richter † (18.5.1954 - 18.1.2020) war ständiger Mitarbeiter von Info3, freier Autor und betrieb von Berlin aus das "Kult.Radio" auf www.kultradio.eu

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