Aller guten Dinge sind drei

Die Freie Waldorfschule Dresden ist eine der ältesten Waldorfschulen in Deutschland – mit wechselvoller Geschichte. Dreimal wurde die Schule gegründet: 1929, 1945 und 1990. Und die Geschichte geht weiter.

Wer sich auf dem weitläufigen Schulgelände zwischen Marienallee und Jägerstraße in der Dresdner Neustadt umsieht, wird eine Weile brauchen, um sich zu orientieren. Allein die Gebäude erzählen eine unüberschaubare Vielzahl von Geschichten. An einem Ende steht das 1930 bezogene alte Schulgebäude Jägerstraße, am anderen das ehemalige Heeresarchiv, derzeit noch Depot der städtischen Museen. Doch bald könnte hieraus womöglich der Konzert- und Schulsaal der Waldorfschule werden, der bislang keine Aula für die gesamte Schulgemeinschaft mit circa 800 SchülerInnen zur Verfügung steht. Dazwischen das Gebäude des Freiherrlich von Fletcherschen Lehrerseminars zu Dresden-Neustadt, in deren Entree die BesucherInnen vom sozialistischen Flair der 60er Jahre umweht werden, sowie andere ältere und jüngere Gebäude, in denen Hort, Werkstätten und die Unterstufe untergebracht sind. Die ursprünglich einzügige Schule nahm in den 1990er Jahren vorübergehend Klassen einer neuen Waldorfschul-Gründungsinitiative auf; nach dem Ausbleiben der Schulgenehmigung blieben zwei Züge unter einem Dach: bis heute mit je eigenen Konferenzen, eigenen Jahresfesten und konzeptionellen Unterschieden zum Beispiel beim „bewegten Klassenzimmer“. Geschäftsführer Holger Kehler: „In allen Richtungen vernetzt arbeiten und denken, das ist wichtig.“

Die Anfänge

Die Anfänge der Waldorfbewegung in Dresden sind nicht weniger vielschichtig. Im April 1929 wurde die „Freie Schule Dresden, einheitliche Volksschule und höhere Schule nach dem Vorbild der Freien Waldorfschule Stuttgart“, mit etwa 80 Schülerinnen und Schülern gegründet. Ab 1930 nannte sie sich dann „Rudolf Steiner Schule Dresden (Private Versuchsschule) einheitliche Volksschule und höhere Schule“ und bezog mit etwa 296 SchülerInnen das Quartier in der Jägerstraße. Voraus ging die Gründung der Christengemeinschaft Dresden im Jahr 1922, zu der auch die Schulgründerinnen Baronin Monica von Miltlitz und Elisabeth Klein gehörten; Letztere übernahm die Leitung der Schule, beide engagierten sich mit Vorträgen und Öffentlichkeitsarbeit, um der Dresdner Elternschaft die Grundlagen der Waldorfpädagogik nahezubringen und für die nötigen finanziellen Mittel zu sorgen. Das Schulgeld betrug 30 Reichsmark pro Monat, Mitlitz und Klein warben bei der Bevölkerung und in Betrieben mit einem Patenschaftsmodell, um die Schule einkommensunabhängig für alle öffnen zu können. Die Schülerzahlen stiegen kontinuierlich an, bis 1934 die Nationalsozialisten wie an vielen anderen Orten eine Aufnahmesperre für die ersten Klassen verhängten. Danach nahmen die Schülerzahlen ab – bis 1938 erstaunlicherweise die Aufnahmesperre aufgehoben wurde. Das Innenministerium („Amt Hess“) genehmigte den weiteren Betrieb der Schule, LehrerInnen und SchülerInnen aus geschlossenen Waldorfschulen zogen nach Dresden. Als die Schule 1941 endgültig schließen musste, hatte sie 450 SchülerInnen. Elisabeth Klein wurde für neun Monate von der Gestapo inhaftiert und anschließend mit einem Berufsverbot belegt.

Womit die Sondergenehmigung seitens des Ministerium Rudolf Hess zusammenhängt, die der Dresdner Waldorfschule erlaubte, in großen Teilen tatsächlich weiterhin waldorfpädagogisch zu arbeiten, ist umstritten. Elisabeth Kleins Rolle im Zusammenhang mit der Protektion der Dresdner Schule durch das Ministerium Hess ist zwielichtig und bis heute ungeklärt. Nach dem Krieg durfte sie fünf Jahre lang nicht an Waldorfschulen unterrichten, sie selbst verstand sich, wie sie in ihren Lebenserinnerungen darlegt, als politisch Verfolgte – ein Bild changierend zwischen Schutzmantelmadonna und Kollaborateurin, Verstrickungen, die im Rückblick für Außenstehende wohl kaum zu lösen sein dürften.

Waldorf in der sowjetischen Besatzungszone

Das Berufsverbot hielt Klein davon ab, an der Neugründung der Dresdner Waldorfschule 1945 mitzuwirken. Im Oktober 1945 wurde die Dresdner Waldorfschule als „Einheitliche Grund- und Oberschule“ zugleich als Bezirksschule der Dresdner Neustadt wiedergegründet. Vier Jahre lang konnte sie sich als einzige freie Schule in der sowjetischen Besatzungszone behaupten. Unterrichtet wurde in den nutzbaren Räumen des teils stark zerstörten Gebäudes Jägerstraße 34 sowie in Wehrmachtsbaracken. „Aus Trümmerstücken buddelten wir brauchbare Bänke heraus, klopften Ziegel, bildeten Menschenketten zum Transport. Wir rahmten Bilder zu Hause aus, um Glas für kaputte Fensterscheiben zu nutzen. In diesem ersten Winter hatten wir noch keine genügende Heizung und zu wenig Schulbänke. Ich erinnere mich, wie wir stehend in den Klassenzimmern, im Mantel, mit Mützen und Handschuhen, Unterricht bekamen – und uns am Unterricht erwärmten, den unser Lehrer so begeistert vortrug, dass wir die äußere Kälte vergaßen“, so erinnert sich die damalige Schülerin Charlotte Stiehm, wie in den Dokumenten des Schularchivs nachzulesen ist. 1949 wurde die Schule über Nacht geschlossen, da Waldorfpädagogik mit den Zielen der sozialistischen Gesellschaft als unvereinbar galt: „Der Grundsatz der Schule, Pädagogik vom Kinde aus aufzubauen, ist falsch. Sie muss von der Gesellschaft aus aufbauen“, befand die SED-Mitgliederelternversammlung am 9. September 1949, wie in der Schulchronik nachzulesen ist. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit etwa tausend Schülerinnen die zweitgrößte Waldorfschule Deutschlands. Erste Amtshandlung nach der Schließung: Alle Wände der Flure und Klassenzimmer wurden einheitlich grau gestrichen. Zahlreiche Familien und Lehrer verließen Dresden und die DDR. Vor allem in der Christengemeinschaft jedoch lebte die Anthroposophie im Halbuntergrund weiter, in Spielgruppen der Christengemeinschaft bzw. in privaten Einzelinitiativen auch die Waldorfpädagogik. Aus diesem Kreis ging unmittelbar nach der „Wende“ die dritte Gründung der Waldorfschule Dresden hervor.

Nach der Wende

Bereits im Dezember 1989 wurde der Verein „Dresdner Initiative Waldorfpädagogik e.V.“ ins Leben gerufen. Die Resonanz war so gewaltig, dass die Schule neun Monate später mit drei Klassen wiedereröffnet werden konnte, erst provisorisch in einem von der Elternschaft mit großem Einsatz renovierten Fabrikgebäude, später dann wieder in dem alten Schulgebäude Jägerstraße 34.  In einem offenen Brief an das Ministerium für Volksbildung in Berlin wird gefordert, „dass der Lehrplan von Erziehenden gemacht wird, die die Wirkung ihres Produktes auch am eigenen Leibe erfahren, oder dass wenigstens Erziehende maßgeblich mitwirken am Lehrplan. Außerdem soll dem Lehrer die Freiheit gegeben werden, vom Lehrplan abzuweichen, wenn die konkreten Bedingungen das erfordern. Befreien Sie die Lehrer von diesem Druck des ewigen ‚Muss‘ und der Kontrolle von ‚oben‘, ganz abgesehen von den politischen Forderungen (…) Geben Sie den einzelnen Schulen mehr Autonomie.“

Nach dem Anpassungsdruck des „einheitlichen sozialistischen Bildungssystems“ nun das Aufatmen und der begeisterte Neuanfang. Die Dresdner haben es dabei nicht belassen. Es gibt eine zweite Waldorfschule – ein Stück die Straße hinauf: die Neue Waldorfschule Dresden hat hier im Schuljahr 2014/15 zu arbeiten begonnen und ist bereits auf sechs Klassen angewachsen. Eine dritte Waldorfschule, mit interkultureller Ausrichtung, will im kommenden Jahr den Betrieb aufnehmen. Was alle Zeiten überdauert, treibt immer neue Blüten.

Die zitierten Dokumente wurden in der Schulausstellung zu 100 Jahren Waldorfschule zusammengetragen.

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Über den Autor / die Autorin

Silke Kirch

Dr. Silke Kirch ist promovierte Geisteswissenschaftlerin, Lebens- und Sozialkünstlerin und lebt in Frankfurt am Main.